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Kunstkomics sind doch kein kaugummi
Zeitschrift Umělec
Jahrgang 2006, 3
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Kunstkomics sind doch kein kaugummi

Zeitschrift Umělec 2006/3

01.03.2006

Anna Charkina | russland | en cs de

Noch vor ein einigen Jahren genossen Comics in der ehemaligen Sowjetunion keine besondere Popularität, sie galten als belanglos. Heute dagegen ist eine so angesehene Institution wie das Zentrum für zeitgenössische Kunst MARS in Moskau bereits im fünften Jahr Plattform für das Comic-Festival KomMissija.


In der sowjetischen Zeit hatte man zu Comics kein besseres Verhältnis als zu Kaugummi. Das eine wie das andere diente als Nahkampfwaffe in den ideologischen Erörterungen darüber, wie die kapitalistische Welt abstumpft. Das gedankenlose Herumkauen auf Kaugummi und das Betrachten von Heftchen, in denen es nur Bilder gibt und die Worte in einer aufgedunsenen Blase herumfliegen – beides symbolisierte den unheilvollen Einfluss der Marktwirtschaft auf den labilen Verstand der heranwachsenden Generation. Trotzdem – um das latente Interesse der sowjetischen Kinder an derartigen Produkten zu befriedigen, druckten die Zeitschriften einfache Comic-Geschichten für die Allerkleinsten ab, wie beispielsweise Lustige Bildchen oder Mursilka. Und es wurde auch sowjetischer Kaugummi hergestellt, mit dem man aber keinesfalls Blasen machen durfte.
Diese Einstellung zu den Comics als etwas, das nur für Kinder bestimmt ist und jeglicher Ernsthaftigkeit entbehrt, besteht auch heute noch fort. Erst in den letzten ein, zwei Jahren hat sich langsam ein Bewusstsein entwickelt dafür, dass eine Zeichnung in einem Comic genauso Kunst sein kann wie eine Illustration in einem Buch, ein Pausenbild im Fernsehen oder eine Schallplattenhülle. Das hängt damit zusammen, dass sich allmählich eine Szene für visuelle Kultur herausbildet, in derauch Comics ihre Berechtigung haben.
Den Versuchen, Comics gleichberechtigt zu anderen Büchern herauszubringen, war in der Vergangenheit kein großer Erfolg beschieden. So tauchte etwa zu Beginn dieses Jahrzehnts auf dem russischen Büchermarkt der Verlag Intusov auf, der farbige Comics mit festem Einband herausgab. Aber diese ziemlich teuren Produkte erfreuten sich keiner großen Nachfrage. In der letzten Zeit wandten sich auch größere Verlage der Herausgabe von Comics zu. Der Verlag Amfora, der eigentlich auf Literatur spezialisiert ist, brachte im Jahre 2005 Sin City von Frank Miller heraus. Es wurden aber nur übersetzte Comics, die im Westen Erfolg hatten, veröffentlicht oder aber von russischen Comic-Künstlern nach populären Filmen oder Büchern gezeichnete Geschichten .
Mittlerweile sind auch Gruppen junger Künstlerin Erscheinung getreten, für die Comics ein veritables Objekt der Begeisterung sind. Sie zeichnen nicht des Geldes wegen, sondern aus ihrer Leidenschaft heraus, einfach “nur so”, in ihrer Freizeit. Und sie riskieren es sogar, Sammelbände auf eigene Kosten herauszubringen und Ausstellungen und Festivals zu organisieren. Vereinigungen solcher Zeichner gibt es inzwischen in mehreren Städten. So wurde zum Beispiel in der Stadt Ufa im Jahre 1990 das Studio Mucha ("Die Fliege“) gegründet, das seit 1990 eine Comic-Zeitschrift mit demselben Namen herausgibt. Diese Zeitschrift erschien in großer Auflage, jedoch bereitete ihr die Wirtschaftskrise in Russland ein Ende. Die Künstler waren folglich gezwungen, ihren Beruf zu wechseln – sie gründeten Videostudios und begannen damit, Musik-Clips zu machen.

Die Verleger grübeln noch,
während andere publizieren

In Moskau ergriff ein fröhlicher und unternehmungslustiger Mensch Namens Chichus die Initiative, Künstler zu organisieren, die Comics zeichnen. Die Gruppe Toter-Fisch-Menschen bildete sich auf der Grundlage der Fantasy-Zeitschrift Phantom; sie umfasst Künstler, Animatoren und Drehbuchautoren aus unterschiedlichen Landesteilen. (http://xixyc.mrtech.ru)
Seit 2003 geben sie den Almanach für gezeichnete Geschichten, grafische Novellen und Comics heraus, welcher für den Fall, dass es zu viele Teilnehmer werden, die Bezeichnung Der Volksstamm des Toten Fisches erhält. Die “Menschen” bilden, mit Chichus an der Spitze, die hauptsächlichen Organisatoren des Comic-Festivals KomMissija, welches bereits seit fünf Jahren im Zentrum für zeitgenössische Kunst M‘ARS in Moskau veranstaltet wird.
Inzwischen sind sie erfolgreiche Künstler, die in Werbeagenturen sehr viel Geld verdienen. Und Comics zeichnen sie, weil Chichus sagt: “Werbung – das ist Mist, und irgendwer muss echte Kunst machen”. Früher wurden Gleichgesinnte für diese echte Kunst hart bestraft. Sie wurden nicht in die Jugend­organisation Komsomol aufgenommen, Samisdat-Verlage wurden aufgelöst, man drang in ihre Ausstellungen ein, die in Privatwohnungen stattfanden. Letzteres geschah oft, und alle Künstler waren bereits daran gewöhnt, dass sich die Lubjanka für Comics interessiert – genauso wie ja auch die gesamte fortschrittliche Öffentlichkeit des Westens. Im Jahre 1989 konnte Chichus nicht länger widerstehen, und er wanderte in die BRD aus. Dort wurde er als politischer Flüchtling aufgenommen, weil er einen Zahn vorweisen konnte, den ihm einmal KGB-Leute in einer Privatwohnung ausgeschlagen hatten.
Aber in Deutschland blieb Chichus letzten Endes doch fremd. Als einer, dem wegen Comics Leid geschehen ist, gilt er dort eben auch nur als einer, “dem wegen Comics Leid geschehen ist”. Denn Comics hier und Comics dort – das sind zwei ganz unterschiedliche Dinge. In Europa haben sie eine langjährige Tradition. Doch in Russland ist Kultur harte Arbeit. Womit sich Chichus bis heute beschäftigt.
"Jeder weiß, dass wir Gangster sind, die den edlen Namen der Kunst mit Füßen treten‘, dass unsere Arbeiten ‚Bilder für Schwachsinnige‘ sind und dass unsere Muse ein ‚durchgedrehter radioaktiver Mutant‘ ist” – dies sagen die “Menschen” über sich selbst aus. Wahrscheinlich wirkt gerade diese grelle Mischung so anziehend: Von Jahr zu Jahr wird das Festival KomMissija aktiver und umfassender, indem es neue Projekte, Ideen und Teilnehmer aus unterschiedlichen Ländern präsentiert. So schlossen sich in diesem Jahr den schon mehrfach vertretenen Ländern Frankreich, Belgien, Schweiz, Italien, Japan, Polen, Slowenien und Ukraine auch Luxemburg und Tschechien an. Die Festival-Internetseite www.kommissia.ru wurde neu gestaltet und erweitert, um jedem die Möglichkeit zu geben, eigene Arbeiten vorzustellen und um leidenschaftliche Diskussionen zu provozieren. Eines der Hauptziele des Festivals besteht in der Bekämpfung des Mythos, dem zufolge Comics auf jeden Fall lustig oder dumm sein müssen. Leider stoßen tiefsinnige Geschichten bisher auf kein so großes Verständnis. Meisterklassen und Kurse sowie eine Messe mit Fanzines sind Teil eines Bildungsprozesses mit dem Ziel, das Genre der Comics zu popularisieren − aber das Wichtigste ist natürlich die Kommunikation und die Möglichkeit, zu sehen und zu ­zeigen.

Währenddessen in St. Petersburg...
Während die Moskauer Veranstaltungen, auf denen Comics präsentiert werden, bereits Widerhall und Zuspruch beim interessierten Publikum und bei der Presse finden, müssen sich in St. Petersburg die Comic-Künstler ihren Weg zum Ruhm erst noch bahnen. In dieser nördlichen Metropole gibt es mehrere Gruppen comicbegeisterter junger Künstler. Nicht alle haben sich als “professionelle” Vereinigungen formiert, die Mehrzahl sind eher lose Gruppen Gleichgesinnter. Jedoch erzielen die Hartnäckigeren unter ihnen allmählich deutliche Erfolge – und dies ausschließlich aus eigener Kraft, durch ihren puren Enthusiasmus. Eine der interessantesten Gruppen ist der SPb. Nouvelles Graphiques.
Dieser Freundeskreis, der die Begeisterung für Anime und Manga teilt, formierte sich 2004 nach der ersten gemeinsamen Ausstellung in der Mediathek des Französischen Instituts in St. Petersburg bewusst als Künstlergruppe. Sie kuratierten eine erste Ausstellung, deren Titel in der Folge auch zum Namen dieser Künstlergruppe wurde. Der jetzige Leiter der Gruppe ist Dima Jakowlew. Interessant ist, dass alle Künstler der SPb. Nouvelles Graphiques (Re-I, TATKA, Jesch, Elruu, Manida, Ilja Maksimow und Roma Sokolow) im Animationsstudio Melnica („Die Mühle“) gearbeitet haben oder arbeiten, welches kürzlich den populären Zeichentrickfilm Aljoscha Popowitsch und Tugarin der Drache produziert hat.
Die Vorliebe für japanische Comics hat einen merklichen Einfluss auf die Arbeiten der SPb. Nouvelles Graphiques, obwohl sie Comics, die in den frankophonen Ländern entstanden sind, als ihr eigentliches Vorbild ansehen.
Am Anfang war SPb. Nouvelles Graphiques auch eine Art von “Interessenklub”. Aber 2005 gelang es ihnen, aus dem Amateur-Rahmen herauszutreten. Sie brachten ihren ersten Sammelband Skaska?... ("Ein Märchen?...“) heraus. In dem Buch geht es darum, wie Geister und Tiere für ein Mädchen, das in ihrer Nachbarschaft lebt, einen Freund finden wollen – eine gezeichnete philosophische Parabel über die Einsamkeit. Jeder Teilnehmer des Projektes musste sich überlegen, wie eine der Personen aussehen sollte und einen der Köpfe zeichnen. Unabhängig davon, dass der rote Faden des Sujets von Anfang an vorgegeben war, bildet jeder der einzelnen Teile eine Geschichte für sich – also jeweils eine Geschichte innerhalb der Geschichte. Und obwohl jeder Künstler in seinem eigenen Stil zeichnet, kann man das Buch als ein einheitliches Ganzes wahrnehmen.
Das zweite kleine Buch der Gruppe entlehnte seinen Titel einem Moskauer Ausdruck, der mit “TschPCh” abgekürzt wird und der “reine Petersburger Sch...” bedeutet. Gewöhnlich bezeichnen die Moskauer damit schwammige Überlegungen über abstrakte Themen. Der Sammelband vereint unterschiedliche Projekte, die sich bei den Künstlern der Gruppe angesammelt hatten und ist in Schwarzweiß ausgeführt. Es kann sein, dass er sich deshalb im eher zurückhaltenden St. Petersburg besser verkauft als das vorhergehende Buch, das durchgehend farbig gestaltet war.
SPb. Nouvelles Graphiques hat nicht vor, bei dem bisher Erreichten halt zu machen. Für die nächste Zeit planen sie einen neuen Sammelband (Phantasien Petersburger Straßen), der der Stadt St. Petersburg gewidmet ist, eine Geschichte über Napoleon (Napoleon ist immer glücklich) und einen Sammelband mit Comics für Kinder. Und sie diskutieren mit dem Redakteur der tschechischen Zeitschrift AAARH, Tomas Prokupek, über Möglichkeiten, tschechische Comics in Russland und russische Comics in Tschechien herauszugeben.
Gegenwärtig veranstalten die Comic-Künstler aus St. Petersburg Ausstellungen ihrer Arbeiten in Jugendcafés, auf Mode-Soiréen und sogar in der Peter-und-Paul-Festung am Strand von St. Petersburg. Sie treffen sich mehrmals im Jahr mit anderen vom Zeichnen Besessenen – auf dem Festival KomMissija in Moskau oder auf der Neunten Welt in Kiew. Und wenn die Popularität der Comics allmählich zunimmt, wächst auch die Hoffnung, dass die seriösen großen Verlage die Aufmerksamkeit auf diese Schicht der Jugendkultur lenken und die im eigenen Land produzierten Künstlercomics unterstützen.










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