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Ben Cottrell, Jana Kochánková und Vladimír Skrepl / Lost Eye / MeetFactory Gallery / 2009
Zeitschrift Umělec
Jahrgang 2009, 2
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Ben Cottrell, Jana Kochánková und Vladimír Skrepl / Lost Eye / MeetFactory Gallery / 2009

Zeitschrift Umělec 2009/2

01.02.2009

Katarína Uhlířová | geschichte | en cs de

Die erweiterte Realität des Ben Cottrell (Cornwall/Berlin)
Zuallererst sind mir in der Ausstellung „Lost Eye“1 diese Zeichnungen aufgefallen. Sie sind allesamt während des zweimonatigen Stipendienaufenthalts Ben Cottrells an der Prager MeetFactory entstanden. Es sind Portraitzeichnungen. Grimassen, Collagen eines zerfallenden Lächelns, Masken voller Falten der Realität. Eine Gesamtkomposition zusammengesetzt aus einer Unzahl von Miniaturzeichnungen. Ein Mosaik, dem blauen Auge einer Libelle nicht unähnlich. Vielleicht aber auch nur ein billiges Kaleidoskop aus Kunststoff, direkt vor unseren Augen mit dem Hammer zerschlagen. Für einen kurzen Augenblick sehen wir die Eingeweide, den Magen und das Herz des Kaleidoskops. Bunte Splitter von verschiedenster Gestalt zwischen zerbrochenen Spiegelstücken. Noch vor kurzem konnte man geometrische, farbenfrohe Blumen oder zarte und lebendige Arabesken betrachten. Es hätte genügt, diesen Zaubergegenstand endlos zu drehen. Aber drehen kann jeder, einen Hammer in die Hand nehmen können die Wenigsten.
Ben Cottrell setzt kein Kaleidoskop zusammen, um es zu drehen. Und verwendet er hin und wieder doch das additive Prinzip, dann nur, um die entstandene Komposition im Anschluss zu zerstören, zu zerschneiden, zu zersägen und zu zerschmettern. Er zerstört die Realität. Er möchte hinter sie blicken, durch sie hindurchsehen. Ben sucht in seiner Arbeit ein Element der dekorativen Kakofonie. Als wäre es möglich, alles, was er sieht, jeden den er trifft, potenziell zu zerschmettern. Auch die von Ben aufgesuchten oder bewohnten Orte sind wie aufgeplatzt und durch die Risse gelangt das Irreale, Verleugnete und Verschwiegene zu uns. Ohne dass wir es möchten, schleicht sich mit Bens Bildern eine mythische Schlange in unseren Alltag.
Bens dreidimensionales Objekt könnte infolgedessen als Altar des Wundersamen gelesen werden. Wir haben uns ja bereits an die Zeichnungen mit Rissen und ihrer veränderten Hyperrealität gewöhnt. Wie wäre es nun mit einem Riss in 3D? Ausgeführt in Sperrholz und Furnier auf einem Sockel aus Altmöbeln. Gekrönt wird das Objekt von einem zerschossenen Kopf. Ein Aufeinanderprallen von Natur und Kultur. Eine Art Wildnis. Dabei atmet es für mich etwas Heimisches, vielleicht ist es der Anklang von Holzimitat-Tapeten, vielleicht sind es die erdigen Farben von Furnier und Beize. Es strahlt aber auch etwas Unheimliches aus. Ein Aufschrei des Unbewussten. Etwas Düsteres, wie einem B-Movie entnommen und mit einem Schuss Naivität in den Alltag impliziert. Eine Landschaft aus dunkler Fantasie geformt.
Bens Gemälde bringen wohl jedem den Kopf zum Bersten. Irgendetwas wird in ihnen aufgewirbelt. Stellenweise ist es unmöglich, die Bilder zu betrachten. Ich wende mich jedoch nicht ab. Ich zwinge mich zu einem großen Maß an Aufmerksamkeit, ein Anspruch, der jedoch kaum zu halten ist. Ben spielt in seinen Gemälden mit völliger Finsternis und dem absoluten Licht. Alice aus dem Wunderland ist schon lange erwachsen und der Spiegel zersprungen. Wir betrachten lediglich seinen Abglanz. Was nun? Diese Frage stellen wir gemeinsam mit Ben an uns selbst.
Ben Cottrell lebt und arbeitet in Berlin. Das hiesige Tempo und die Vielschichtigkeit der verschiedenen Kulturen scheinen ihm offensichtlich gut zu tun und ihn anzuregen.

„I love you too!“ Die Cremefarbende Umgebung der Jana (Koko) Kochanková Jana Kochanková ist für mich vor allem eine Bildhauerin. Ihre Arbeiten, das sind sowohl die kleinen, zarten Stillleben in Gips, wie auch die mutigen Konstruktionen aus Plüschtieren und Schuhen oder eine Art mit Gips übergossener Fetisch. Jana ist bekannterweise eine amerikanische Bildhauerin, die sich mit Künstlernamen und als Markenlogo Koko nennt. Gleichzeitig ist sie die temperamentvolle Erbauerin von kleinen und großen zerbrechlichen Bauten, einer Art von Schutzräumen. Ob sie nun mit einem anderen Schnee ein anderes Iglu formt oder aus bunten Altkleidern Bunker baut, jedes Mal durchdenkt sie sorgsam die Konstruktion der zu entstehenden Gestalt. Mit Stoffen verhängt sie Gerüste und Körper, um aus ihnen Skulpturen werden zu lassen.
Koko widmet jedem Raum, den sie neu betritt oder in dem sie arbeitet, sehr viel Aufmerksamkeit. Gleiches tut sie mit Räumen, die sie mit ihrer Arbeit erst entstehen lässt. Zwischen der Stabilität des Ganzen und der Weichheit und Labilität einzelner Elemente herrscht Ausgewogenheit.
So wie Ben Cottrell seine Kompositionen absichtlich stört und zerstört, ist Jana Kochanková im Gegenteil mit der Zusammenstellung, Einbindung, Überlappung und Verpackung von Elementen und Schichten beschäftigt. Dabei ist alles erlaubt. Während der Arbeit an ihrer letzten Skulptur mit dem Arbeitstitel „Kokoland II“ mutierte sie zu einem verliebten Konditor. Der scheinbar labile Bau - eine Art Torte, nach Fertigstellung „I love you too!“ genannt, entstand aus der Wiederverwendung des Styropor-Iglus. Wieder setzte sie Gips ein und mischte ursprünglich satte Farbpigmente mit ein, die im Gips eine milchig weiche Farbigke
it annahmen. Anstelle von Mandeln oder kandiertem Obst schmückte sie ihre Torte mit Gipsfiguren, bunten Kugeln, Bäumchen. Als Zugabe stellte sie einen Stuhl mit gepunktetem Hemd, gestreiftem Pullover und einen Blumentopf dazu. An der Tortenspitze leuchtete eine Energiesparbirne.
Wäre ich Kartografin und würde die Landkarte des entfernten Landstriches namens Kokoland zeichnen, könnte ich nun behaupten, Kokolands Ufer seien mit kleinen Riffen und Inseln gesäumt. Solange wir sie nicht betreten, können wir nicht sagen, ob sie zum Festland gehören. Die Insel „I love you too!“ ist nur eine von ihnen. Die früheren Installationen „Iglu“ und „Bunker“ (beide 2007) zählen ebenfalls dazu. Und die Historie von Kokoland beginnt irgendwo auf Coney Island oder mit der Besetzung von Astor Place in New York. Ja, Koko ist eine amerikanische Bildhauerin.

Die wilde Malerei des Vladimir Skrepl Farbe. Paste. Und die Wildheit der Gestalten. Bei der Vernissage beobachte ich einige Personen, wie sie die Bilder berühren wollen, um sich zu vergewissern, ob die Farbe bereits ausgehärtet ist. Als würden sie ihren Augen nicht trauen. Oder einfach auch nur im Versuch, die Figuren, die Schimären und ihre Schatten zurück in die Fläche der Bilder von Vladimir Skrepl (*1955) zu drücken.
Schnellzeichnungen, lebendige Gemälde, Zombie-Zeichen-Gemälde. Alles ist aufgeschichtet und verrieben. Bis ins Graue hinein. Vergessen und wiederentdeckt. Ist. Bild. Sich wiederholend. Jedes Mal anders expressiv. Schreiend oder still und durchscheinend sind die zärtlichen wilden Wesen. Vladimir schämt sich für keinerlei Farbe, für keinerlei Gestalt, für keinerlei Organ, für kein einziges Wort. Mit dem Stolz und der Freude eines Kindes unterschreibt er deutlich und leserlich seine Bilder. Er ist Teil seiner Bilder.
Mit der Schlange der Realität hat Vladimir so seine Schwierigkeiten, wie letztlich wir alle. Aber er widersteht der Schlange. Mit aufrichtiger Neugier und Befremdung beobachtet er sich selbst, egal wobei und mit wem. Die in der MeetFactory ausgestellten Bilder sind wild und fröhlich. Es sind Bilder des Unentdeckten und Unbeschriebenen. Sie sind gänzlich innerhalb des letzten Jahres entstanden, aus Anmaßung und Demut. Alles scheint expressiv an den langen Haaren einer seltsamen Prinzessin herbeigezogen. Bewegung und Starre. Arbeit und Spiel ohne jede Selbstzensur. Ich spüre auch eine Angst. Ich glaube Vladimir, wenn er sagt, dass die Angst, die aus der Strenge, Proportion und absoluten Selbstkontrolle herrührt, stärker sein kann als der Horror vacui. Vladimirs Bilder-Gesten sind befreiend.
Solche oder ähnliche Bilder durchleben wir alle, ob bewusst oder unbewusst. Vladimir durchlebt und malt sie. Während ihm Wörter, Personen, Situationen durch den Kopf gehen. Unsicherheiten, Auseinandersetzungen, Wünsche, B-Movies und Lichtjahre an Musik. Eine Hundemeute, Eichhörnchen und Kätzchen. Vladimir Skrepl, der introvertierte Exzentriker in gestreiftem Pullover und Mütze ist in der Lage. verschlossene und sich öffnende Zeichnungen und Gemälde zu produzieren, vor allem aber sind es immer fröhliche Arbeiten. Seine Farben verschmiert er, bis daraus ein Schlammgrau, Braun oder ein merkwürdiges Lila
resultiert, nur damit sich die reine und klare Farbe auf diesem Hintergrund besser abheben kann. So wie eine kurze Melodie oder zwei, drei Töne nach einem endlosen Soundmix von Geräuschen. Reine Farben heben sich ab. Ein introvertierter Exzentriker in gestreiftem Pullover und Mütze verhilft ihnen dazu, mit seiner wilden Malerei, die ich immer wieder gerne betrachte.

„Scheißdreck.
Eichhörnchen.
Schlangen-Reality.
Darkness.
Prinzessin.
Frauen und Männer mit ihren Waffen.
Zwerge.“

„Das sind die Wörter, die uns durch den Kopf schießen, sie sind wie Gesten. Die Gesten während eines Gesprächs, an die man sich später auch nicht erinnert. Was für eine Bisexualität?
Das ist keine einfache Sache... das ist nicht einfach nur Animus oder Anima, auch nicht allein der zurückgezogene Mann und die aggressive Frau. Auch nicht nur der Traum vom androgynen Wesen... es ist um Vieles komplizierter.“

Skrepls Gemälde, das sind die vergessenen Gesten. Alles ist viel komplizierter, als wir es uns zugestehen können. Und wollen wir es uns überhaupt zugestehen? Ich hoffe, dass wir es zumindest ansehen wollen. Denn es reicht nicht aus, hin und wieder eine Schönheit mit männlichem Glied, einen Mann mit goldenen Haaren zu betrachten. Es reicht nicht aus, sich zu fragen, woher all die starken Prinzessinnen und die wilden Tiere kommen.

„So wie die Wörter verschwinden, so verschwinden auch die Körper.
Es ist ein Schwinden an Klarheit. “2

Diese Körper tauchen an anderer Stelle wieder auf. Was aber zwingt uns, diese Reste der schönen menschlichen Körper, der Körper schöner, wilder Fantasietiere zu betrachten? Wohin sind sie entschwunden?

Kobra-Schnaps als eine uneindeutige Metapher der Ausstellung Diese Ausstellung Anfang Januar in der MeetFactory zu besuchen und alles anzusehen, war, als würde man zuerst aus der Ferne und dann vom ganz Nahen eine Flasche mit Kobra-Schnaps betrachten. Diese Ausstellung in die Wege zu leiten muss so gewesen sein, wie von dieser Flasche zu trinken. Zwei, vielleicht auch vier Schnäpse trinken und gut gelaunt etwas Gesundes dazu essen. Oder waren es vielleicht fünf Schnäpse? Ist dieses Getränk heilsam?
Was ist das eigentlich, Kobra-Schnaps? Im Grunde schade, dass ich es mit Worten näher erklären muss, aber ohne Erklärung ist diese Metapher wertlos. Also was ist Kobra-Schnaps? Kobra-Schnaps ist ein orientalisches Getränk, für uns ein geheimnisvolles Gebräu. Ziemlich sicher ist es aus einem starken Mythos heraus entstanden, aber wir kennen dieses Mythos nicht.
Nüchtern betrachtet handelt es sich um eine in reinem Alkohol, im besseren Fall in etwas edlerem, eingelegte Kobraschlange, welche wiederum eine kleine Mamba zwischen den Zähnen hält.
Also eine Kobra, eine Mamba haltend, in Alkohol mit Ginseng eingelegt. Ein heftiger Anblick. Jegliche Klarheit darüber, was im Inneren geschieht, zerbricht an der dekorativen Form des Behälters aus klarem Glas. Unser Unwissen trägt seines dazu bei. Die rundliche, flache Form der Flasche ist in einzelne Felder unterteilt. An ihnen bricht sich das Licht in verschiedener Richtung, es scheint als würden sich die Schlangen bewegen, der Ginseng dahintreiben. Sollte jemand das Gefäß zerschlagen, werden weder die Schlangen noch der Ginseng verschwinden. Allein der Schnaps wird zwischen den Splittern zerfließen.
Diese Ausstellung, über die ich zu schreiben versucht habe, war so stark wie dieses Getränk. Zuallererst stellte ich mir die Frage nach ihrer Schönheit und Aktualität. Ein starker Energiefluss, der sich addierte und seltsam brach, hat mich sofort ergriffen. Zum Teil war es eine Symbiose von Vladimirs Gestalten und Janas Räumen. Ein Zusammenspiel, das dank Ben auch zu einem Wirbelsturm in der MeetFactory führen konnte.
Der Kuratorin Zuzana Blochova ist in diesen großen, aber vom Zentrum verhältnismäßig weit entfernten Räumlichkeiten mit der Einladung an diese drei Künstler eine gute Verbindung gelungen. In ihren Werken können wir temperamentvolle und gleichzeitig wertvolle Spuren einer befreienden Wildheit erkennen. Damals im Januar sah ich eine Ausstellung, die mich überraschte. Ich nehme diese Aufforderung an.
Es wird Zeit für eine Reise nach Berlin, zu weiteren Ausstellungen und Konzerten.

1 Der Titel der Ausstellung „Lost Eye“ verweist auf eine Legende vom heidnischen Gott Odin, nach der er sein linkes Auge gegen alles Wissen und Kenntnis seiner Zeit eingetauscht hatte. Dieser Titel wurde gewählt, um den kräftigen und wilden visuellen Part der ausgestellten Arbeiten zu unterstreichen. Eine Aussage, die die Absicht der drei Künstler bekräftigt, sich außerhalb der führenden, unterkühlten, streng konzeptuellen Kunstströmung zu positionieren.
2 Teilweise übernommen aus einem Interview von Milan Salak (www.artycok.cz) mit Vladimir Skrepl, geführt in der Galerie 207. Des weitern sind Zitate und Metaphern aus unseren gemeinsamen Gesprächen mit Vladimir Skrepl im Verlauf der Ausstellung verwendet.




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