Zeitschrift Umělec 2011/1 >> Teflon Project oder Wie ich das Rudolfinum gezeigt habe Übersicht aller Ausgaben
Teflon Project  oder Wie ich das Rudolfinum gezeigt habe
Zeitschrift Umělec
Jahrgang 2011, 1
6,50 EUR
7 USD
Die Printausgabe schicken an:
Abo bestellen

Teflon Project oder Wie ich das Rudolfinum gezeigt habe

Zeitschrift Umělec 2011/1

01.01.2011

Alena Boika | die kinder des kapitän grant | en cs de

An einem Samstag, als sich die Zeiger der Fünf näherten und ich die Karlín-Studios (wo sich der Verlag Divus und die Redaktion von Umělec befinden) schon verlassen wollte, ertönte plötzlich die Klingel. Wir haben eine besondere Klingel. Ich hätte ganz nach unten gehen müssen, um aufzumachen, und wollte sie schon ignorieren, weil es in Karlín gerade sowieso keine Ausstellung zu sehen gab. Doch dann entschied ich mich aber trotzdem, hinunter zu gehen und zu schauen, wer da so beharrlich war.
Als ich die Tür öffnete, entdeckte ich eine Gruppe junger Leute vor dem Eingang, die unsicher, aber fröhlich von einem Bein aufs andere traten. Sie sahen nicht tschechisch aus und sprachen Englisch. Sie zeigten mir die Karte, die sie zu uns in die Karlín-Studios geführt hatte. Ich erklärte ihnen, dass sie in der Zeit zwischen zwei Ausstellungen gekommen waren und es nichts zu sehen gab und schlug ihnen einen bescheidenen Rundgang durch unsere „luxuriösen“ postindustriellen Räumlichkeiten vor.
Sie stimmten freudig zu, schauten sich alles genau an, nahmen sich Zeitschriften und Bücher und erzählten, dass sie über ein „Residenzprogramm“ nach Prag gekommen waren und schon am morgigen Tag wieder abfahren würden, fast ohne etwas
gesehen zu haben, weil sie die ganze Zeit an einem Kunstprojekt
gearbeitet hätten. Mitfühlend und aus Sympathie zu den Künstlern schlug ich vor, ihnen in der Stadt zu zeigen, was noch geöffnet war. So besuchten wir das alternative Kunstzentrum Trafačka und das Internationale Zentrum für Zeitgenössische Kunst, die Meet Factory. Auf dem Weg erzählten sie mir Bruchstücke ihrer Geschichte, die sich wegen ihrer Verworrenheit in meinem Kopf nicht zu einem Ganzen fügen wollten. Erst nach dem Besuch der Meet Factory, als sie mich zu einem Sektabendessen „zu sich“ einluden, nahm sie endlich ihre ganze zauberhafte Vollständigkeit an.
Es stellte sich heraus, dass die Künstler auf Einladung eines tschechischen Kurators aus Edinburgh gekommen waren. Seinen Namen zu nennen, genierten sie sich. Motiviert durch mein „Ist vielleicht irgendetwas passiert?“ erfuhr ich, dass der Mensch, der sie alle nach Prag eingeladen hatte, nie aufgetaucht war.
Was hätten in dieser Situation andere, zum Beispiel tschechische oder russische Künstler, normalerweise gemacht? Nun, klar, sie wären etwas in Prag umhergelaufen und dann höchstwahrscheinlich nach Hause zurückgekehrt. Doch diese Künstler hier waren nicht „normal“ im Sinne dieses Wortes – sie hatten sich entschieden, eine große Wohnung für vier Personen zu mieten und sich dort mit der Realisierung des Projekts zu beschäftigen, mit dessen Vorbereitung sie ein halbes Jahr verbracht hatten.
Wer waren und sind diese wundervollen, seltsamen Menschen? Es handelt sich zum einen um Darren Farquhar und Petra Pennington – junge Künstler, die sich aktiv auf dem Weg der „professionellen zeitgenössischen Künstler“ von einem Ende der Welt ans andere fortbewegen. Nach Prag sind sie direkt aus Australien gekommen, wo sie über ein anderes Residenzprogramm zu Gast waren. Dann ist da Mirja Koponen, die in Finnland geboren wurde und in Sankt Petersburg und Kansas studiert hat. Nach einigen Jahren intensiven Lebens als Forscherin und aktiver Performance-Künstlerin in Amerika siedelte sie schließlich nach Edinburgh über. Dort ist sie im selben Stil und nicht minder enthusiastisch tätig, und analysiert nachdenklich alle Ecken des physischen und imaginären Raums gleichzeitig.
Sara Sinclair versuchte, mich davon zu überzeugen, dass sie einfach eine gewöhnliche Hausfrau und Mama zweier Kinder sei. Als Argument für ihre Behauptung nahm sie ihr witziges Kleid, das aussah wie aus einer 70er-Jahre-Lifestyle-Zeitschrift mit dem Titel Mach dein Haus gemütlich! Zudem führte sie „Küchenperformances“ vor. Doch neugierig geworden durch ein kleines Häuschen, das sich im Gras ihrer Visitenkarte versteckte, scheute ich nicht die Mühe herauszufinden, dass Sara Sinclair die Back Garden Biennale erfunden und organisiert hatte, die seit 2006 schon dreimal in ihrem Garten stattfand (2008 und 2010, siehe auch auf www.back-garden-biennale.co.uk)
Den Menschen, der das alles für sie in Prag „organisiert“ hatte, hatten die Künstler eher zufällig kennengelernt. Als er sie im entfernten Schottland besuchen kam, hatten sie ihm mit Geschenken und Ausflügen einen tollen Empfang bereitet. Übrigens waren sie schon damals über eine Reihe von Unstimmigkeiten empört – der Mann hatte irgendwelche soziologischen Forschungen, europäische Fördergelder und Zielgruppen erwähnt – Begriffe, die weitaus nicht in die Sphäre der Kunst gehören. Doch da-
ran erinnerten sie sich erst, als ihnen bewusst wurde, dass die Umsetzung dieser in den leeren Raum geworfenen Schlagwörter auch in ihren Tätigkeitsbereich gehörte.
Nun, was soll’s? Gesagt, getan.
Geplant war vor allem eine Ausstellung in Neratovice –
einer kleinen Industriestadt nördlich von Prag. Um keine Zeit zu verlieren, hatten sie sich zudem wie beiläufig dazu entschieden, eine Serie von Straßen-Performances durchzuführen, ein Hausmuseum mit Führungen zu organisieren und eine möglichst genaue Dokumentation des Projekts anzufertigen.
Die Schwierigkeit bestand darin, dass sie in Prag niemanden kannten, in ganz Tschechien nicht. Das hinderte sie aber nicht daran, nach Neratovice zu fahren, in die örtliche Schule (!) zu gehen – wohin sollten sie sonst? – und dort eine Ausstellung zu organisieren. Ich kann mir die Verwunderung der dortigen Bewohner vorstellen: keinerlei Kommunikation, sehr fremde, lächelnde Künstler und – Kunst. Es sollte noch gesagt werden, dass der unternehmungslustige „Kurator“ ihnen mitgeteilt hatte, genau dort gäbe es das „richtige“ Zielpublikum, mit welchem man „arbeiten“ müsse. Und sie arbeiteten. Sara Sinclair – Mama und „Hausfrau“ – studierte die ganze verfügbare Literatur und entwarf ein Projekt, verbunden mit dem „historischen Gedächtnis“ und dem schweren Erbe der sozialistischen Vergangenheit in einer einzeln betrachteten Provinz. Es sah sehr nett aus, anrührend und leicht, ohne bemüht konzeptionelle Untersuchungen. Alles wie gehabt. Petra Pennington, bei der sich tschechische Wurzeln fanden, hatte sogar ein wenig Tschechisch gelernt und versuchte den hiesigen Bewohnern zu erklären, dass sie keine Feinde aus der Zeitmaschine seien, sondern eine Kunst-Mission hatten. Im Übrigen, zur Vernissage kam fast niemand, und sie waren etwas traurig, denn sie wussten überhaupt nicht, wie und wen sie dorthin hätten einladen sollen.
Nachdem sie sorgfältig ihre ungewollten Ausstellungsexponate eingesammelt hatten und mit ihnen nach Prag zurückgekehrt waren, hatten sie die Hoffnung, wenigstens dort zu einem vernünftigen Kunstmilieu Kontakt aufzunehmen, immer noch nicht aufgegeben und machten sich an die Organisation des in der Wohnung errichteten Hausmuseums. Alles war aufs Beste durchdacht, die Objekte an den richtigen Orten aufgestellt, Mirja Koponen verwandelte sich in eine Museumsführerin und Sara Sinclair beschäftigte sich – passend zum selbstgewählten Hausfrauen-Image – mit Performances auf dem Küchentisch. Sie öffneten die Türen ihrer riesigen Wohnung für alle Interessierten – doch was dann? … Sagen Sie, kennen Sie viele Tschechen, die noch auf der Revoluční-Straße wohnen? Eben, genau – sie haben sie auch nicht getroffen! Irgendwie stellte sich im Prozess all dieser schüchternen Kommunikationsversuche heraus, dass sich rundherum nur Büros und ebensolche Leute befanden wie sie selbst – Ausländer verschiedener Couleur.
Doch gerieten sie nicht in Verzweiflung und schluchzten auch nicht in ihre Kopfkissen. Ihr Leben hatte sich ohnehin schon in ein ununterbrochenes Happening verwandelt. Mirja machte Führungen für ihre Kollegen. Diese drohten vor Lachen zu sterben, doch auf dem Video sieht alles sehr ernsthaft und überzeugend auf. Und in der Zwischenzeit zeigten sie Performances auf dem Altstädter Ring und darum herum, wo es sich anbot, immer noch auf das Wunder hoffend, dass irgendeine hypothetische Künstlerszene, von der sie nur aus dem Internet wussten, sie entdeckte. Warum sind sie denn nicht in ein normales Zentrum oder eine Galerie gegangen, fragen Sie? Wozu denn? Sie haben sich ja schon mit Kunst beschäftigt. Sie wollten, dass irgendein Zentrum oder eine Galerie zu ihnen kommt.
Es war ein erstaunliches Abendessen (ganz zu schweigen davon, dass Schottisch nicht ganz das gleiche ist wie Englisch). Nach allen Erzählungen und Exkursionen, die sie extra für mich durch ihr kleines Heimmuseum veranstalteten, begann Mirja Prag zu besingen. Wir saßen auf dem geräumigen Balkon, der eigentlich eher eine Terrasse war und von dem aus Prag in seiner ganzen Pracht in einem 180-Grad-Panorama zu sehen war – und sogar mehr, wenn man sich streckte und hinauslehnte. Und Mirja, bedacht auf ihre hochhackigen Schuhe, sang – mal mit tieferer, mal mit höherer Stimme, je nach Höhe des besungenen Turms. Es war herrlich!
Wir verabschiedeten uns spät in der Nacht, als aller Sekt ausgetrunken und vieles besprochen war. Doch das war nicht das Ende der Geschichte. Am nächsten Tag bestand ich darauf, dass wir uns vor ihrem Abflug noch für ein Stündchen treffen sollten, weil ich ihnen unbedingt etwas zeigen wollte, ohne DAS zu sehen sie einfach nicht abfahren konnten. Die Sonne schien hell, es war ein wunderschöner Tag. Wir näherten uns einem imposanten Gebäude und ich sagte: „Schaut, das ist das Rudolfinum1.“ Wir gingen hinein und sie schwiegen, überwältigt, sich verloren umblickend: Ihr „Kurator“ hatte ihnen außer der Zielgruppe in Neratovice nebenbei auch mitzuteilen geschafft, dass ihre Ausstellung im Rudolfinum gezeigt werden würde.

Vorhang zu.

P.S. Auf Bitte Mirjas spreche ich vom „Teflon-Projekt“, so wie sie sich im Laufe dieses Abenteuers angewöhnt haben, es unter sich zu nennen. „Wie wir uns bemüht haben, welche Anstrengungen wir nicht unternommen haben! Doch alles rutschte irgendwohin ins Nirgendwo ab – wie in einer Teflonpfanne“, lachte sie. Ich habe einen Traum: sie wieder einzuladen und in der gleichen Wohnung auf der Revoluční, wo Mirja Prag besungen hat, eine ausführliche Version ihres Museums mit Führungen und Performances einzurichten und ihnen die Chance zu geben, daran zu glauben, dass wir außer dem Rudolfinum eine vernünftige Kunstszene haben, die offen für Kontakt ist. (Ich hoffe, wir kommen ohne europäische Fördermittel aus).




1 Das Rudolfinum ist ein im Stil der Neorenaissance errichtetes und architektonisch bedeutsames Galeriegebäude mit prächtigem Konzertsaal und ebensolchen Ausstellungsräumen in Prag. Dort finden die bedeutendsten Ausstellungen zeitgenössischer Kunst statt.


Aus dem Russischen von Helena Maier.


Sie finden die vollständige Beschreibung des Vorfalls von Mirja Koponen A short ANATOMY OF a "COLLABORATION" when one eye looks left, and the other one towards the upper right hand corner




Kommentar

Der Artikel ist bisher nicht kommentiert worden

Neuen Kommentar einfügen

Empfohlene Artikel

Afrikanische Vampire im Zeitalter der Globalisierung Afrikanische Vampire im Zeitalter der Globalisierung
"In Kamerun wimmelt es von Gerüchten über Zombie-Arbeiter, die sich auf unsichtbaren Plantagen in obskurer Nachtschicht-Ökonomie plagen."
Terminator vs Avatar: Anmerkungen zum Akzelerationismus Terminator vs Avatar: Anmerkungen zum Akzelerationismus
Warum beugt ihr, die politischen Intellektuellen, euch zum Proletariat herab? Aus Mitleid womit? Ich verstehe, dass man euch hasst, wenn man Proletarier ist. Es gibt keinen Grund, euch zu hassen, weil ihr Bürger, Privilegierte mit zarten Händen seid, sondern weil ihr das einzig Wichtige nicht zu sagen wagt: Man kann auch Lust empfinden, wenn man die Ausdünstungen des Kapitals, die Urstoffe des…
Tunelling Culture II Tunelling Culture II
Ein Interview mit Mike Hollands Ein Interview mit Mike Hollands
„Man muss die Hand von jemandem dreimal schütteln und der Person dabei fest in die Augen sehen. So schafft man es, sich den Namen von jemandem mit Sicherheit zu merken. Ich hab’ mir auf diese Art die Namen von 5.000 Leuten im Horse Hospital gemerkt”, erzählte mir Jim Hollands. Hollands ist ein experimenteller Filmemacher, Musiker und Kurator. In seiner Kindheit litt er unter harten sozialen…