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Von Spritzender Milch und weißen Handtaschen: Eindrücke von der DokumentaZeitschrift Umělec 2007/301.03.2007 Dorotea Etzler | video column | en cs de es |
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In der Nähe des Haupteinganges steht das Mohnfeld („Poppy Field“) von Sanja Iveković in voller Blüte. Es wiegt sich sanft im Wind und hält der dicken grauen Wolkendecke stand. Das Fritz-soundso-Gebäude (Museum Fridericianum) ist voll gestopft mit Menschen, Kunst und dicken Vorhängen, die permanent die Aussicht versperren. Ich habe das Gefühl, meinen Orientierungssinn am Eingang abgegeben zu haben.
Ich schlendere in die vielschichtige und vielgestaltige Installation „where we were then, where we are now“ von Simon Wachsmuth hinein, die ich umso beachtenswerter finde, je länger ich verweile. Er arbeitet hier mit Bildern und Bildverarbeitung an der Geschichte des Ortes Persepolis. Besonders beeindruckt hat mich der Schwarz-Weiß-Film „Pulad Zurkhaneh“, der, geradezu zeitlos anmutend, iranische Männer beim Krafttraining als Teil einer religiösen Zeremonie dokumentiert. Wachsmuth zeigt hier ein ganzheitliches Lebenskonzept, welches keine Trennung von Religion, Sport und Kultur aufweist und auf extrem begrenztem Raum praktiziert wird. Weiter hinten im Erdgeschoss lockt mich die betörende Soundkulisse der Video- installation „Deep Play“ von Harun Farocki an. Sie ist gekonnt platziert. Dunkelgrüne Wände, Fußballmonitore und weiße Vorhänge bilden das perfekte Wohlfühl-Ambiente inmitten dieses Kunstwahnsinns. Ich frage mich, ob diese Installation wohl im White Cube funktionieren würde. Hier bereitet es jedenfalls großes Vergnügen zu sehen, wie dieser Deutsche auf ebenso deutsche Art den deutschen Fußballmythos des Jahres 2006 in akkurate Stücke zerlegt. Auf zwölf Monitoren untersucht Farocki das vertraute „Weltkulturgut“ und kontextualisiert es in der Kette Sport – Unterhaltung – Wissenschaft – Geschäft. Die einfachen 90 Spielminuten liefern Material für die Arbeit einer Heerschar von Instituten und Industrien. Mir stellt sich hierbei die Frage: wer arbeitet für wen? Man könnte vermuten, dass die mediale und wissenschaftliche Arbeit dazu dient, das Spiel zu analysieren, um letztlich die Fähigkeiten der Spieler zu verbessern. Aber vielleicht gibt es Profifußball nur, damit auch weiterhin Tausende von Menschen in Lohn und Brot bleiben. Ins Zentrum dieser Arbeit zeigenden Bildereignisse setzt Farocki humorvoll den als Eigenaufnahme betitelten Abendhimmel über dem Stadium. Ich sehe das Flachdach des Corbusier Hauses. Ich sehe Farocki mit Stativ und Mini-DV Kamera und denke an Caspar Davids Friedrichs „Wanderer über dem Nebelmeer“. Ein Stock höher. Die Besucher scheinen auf eine Tanzperformance zu warten. Zögerlich mische ich mich unter die Menge und bemerke die unscheinbare Projektion neben mir. Ein Chinese bewegt eine Reihe Ziegelsteine über die Straße: „Safely Ma-noeuvring Across Lin He Road“ von Lin Yilin. Ich schätze einfache Stücke, die meine Gedanken anregen. Ich denke an die Chinesische Mauer und die Bewegung die das Land erfasst hat. Ich denke an Schutz hinter Steinen, und mir gefällt das Bild der losen Steine. Es beschreibt die Singularität, die sich die chinesische Bevölkerung heutzutage aneignen muss. Bislang agierte sie wie die fest verbundenen Steine ihrer Mauer. Stein für Stein schichtet Lin die Mauer stets neu auf, und sie gewährt ihm Schutz, indem die Ziegel temporäre Vereinigungen eingehen. Das wirklich Großartige an der Dokumenta ist ihre Lage. Das Fritz-soundso-Gebäude liegt gleich neben der Einkaufstrasse. Vor 10 Jahren hatte ich hier diese tollen Nylonstrumpfhosen gekauft, die ich noch immer benutze. Damals sah ich zum ersten Mal das beeindruckende Video über die Geschichte der Flugzeugentführungen - „dial H-I-S-T-O-R-Y“ von Johan Grimomprez (auf der 10. Dokumenta). Er benutzt ausschließlich found-footage, welches zunächst durch seine Authentizität berührt. Im Verschnitt unterschiedlichster Epochen und Ereignisse schafft Grimomprez eine hoch verdichtete Erzählung, die erstaunliche 4 Jahre vor dem Anschlag auf das World Trade Center in New York entstand. Kürzlich erst kaufte ich mir die DVD und war erstaunt, dass es möglich ist, dieses via Museum verbreitete Kunstwerk so günstig zu bekommen. Schauen Sie mal im Netz nach – es lohnt sich. Der Aue-Pavillon unten auf der sumpfigen Wiese ist furchtbar, die Architektur grauenhaft. Ein Gewitter von Vorhängen empfängt mich. Es sind silbrig glitzernde Tücher, und sie hängen überall, auch von der niedrigen Decke. Ich laufe vorbei an stummer Kunst und wahllos angeordneten Trennwänden. Dann sehe ich das erfrischende Milch-Video „Who‘s Listening? 5“ des Taiwanesen Tseng Yu-Chin, das Kinder beim Spielen zeigt. Offen blicken sie in die Kamera, verlegen und kichernd harren sie der erruptiven Milch aus. Die in Asien traditionell verwendete Soja-Milch ist wollweiß. Hier wird jedoch rein weiße Kuhmilch, also ein Produkt des Westens, der kommenden Generation entgegen geschleudert. Das Video bewegt sich geschickt zwischen der erwartungsvollen Spannung und dem befreiendem Lachen der Kinder und bezeugt Tsengs Feingefühl für Situationen und Leute. In der Neue Galerie, die man besser Altes Museum nennen sollte, ist die Luft noch heißer und unerträglicher als im Fritz-soundso-Gebäude. Ich gerate schließlich in die Mehrkanalton-Installation „...miramondo multiplo...“ von Olga Neuwirth. Ein Flachbildschirm als Teil der Installation ist geschickt vor den weißen Vorhängen positioniert. Diese Anordnung ist von wunderbarer Leichtigkeit und Rätselhaftigkeit. Exakt platziert löst sie die Materialität des Bildschirms komplett auf. Sie führt zur Unsicherheit, ob die gezeigte Handlung als Film auf dem Bildschirm oder, quasi als Schattenriss, hinter dem durchsichtigen Screen durchgeführt wird. Ich möchte verweilen und schauen und lauschen, doch ich bin zu erschöpft. Weiter, weiter, sage ich mir, mehr Kunst und noch mehr Kunst. Doch es ist schon kurz vor acht, und ich muss unbedingt noch in den Museumsshop. Ich brauche auf jeden Fall diese kleine weiße Handtasche, die ich vorhin an einer Besucherin gesehen habe!
01.03.2007
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