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Ein Ausflug in die Reichshauptstadt Das Seminar Writing Central European Art History: eine kritische Analyse von Studierenden
Zeitschrift Umělec
Jahrgang 2009, 2
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Ein Ausflug in die Reichshauptstadt Das Seminar Writing Central European Art History: eine kritische Analyse von Studierenden

Zeitschrift Umělec 2009/2

01.02.2009

Eduard Freudmann, Ivan Jurica und Ivana Marjanović | kunstgeschichte | en cs de

Writing Central European Art History lautete der Titel eines Seminars, das von der ERSTE Stiftung und der Österreich-Sektion der NGO World University Service (WUS) als Teil des wiederum durch die ERSTE Stiftung initiierten Projekts PATTERNS_Travelling Lecture Set organisiert wurde. Es beinhaltete Vorträge von sieben ProfessorInnen aus dem so genannten Osteuropa (Tschechien, Estland, Ungarn, Polen, Serbien und der Slowakei): Edit András, Jan Bakos, Ljiljana Blagojević, Mart Kalm, Vojtech Lahoda, Piotr Piotrowski und Miško Šuvaković. Das Seminar fand in Wien in Kooperation mit der Klasse für Post-Konzeptuelle Kunst an der Akademie der bildenden Künste statt, verantwortlich für die dortige Durchführung waren Univ. Prof. Dr. Marina Gržinić und als Assistent bzw. Assistentin Ivan Jurica und Ivana Marjanović. Zuvor waren die Vorlesungen auch an den Universitäten von Belgrad (Serbien), Cluj-Napoca (Rumänien) und Poznan (Polen) zu hören.
Der vorliegende Text ist die Transkription eines Gesprächs zwischen Studierenden der Klasse für Postkonzeptuelle Kunst und anderer Klassen der Akademie der bildenden Künste sowie Eduard Freudmann, Ivan Jurica und Ivana Marjanović. Er ist das Resultat eingehender Vorbereitung auf das Seminar in Form von Readings, Diskussionen und kritischer Reflexion. Zur Verbesserung von Überschaubarkeit und Dramaturgie wurde die Gesprächsabschrift editiert, die Namen der TeilnehmerInnen wurden geändert.

Ana: Ich würde diese Diskussion gerne mit einer allgemeinen Betrachtung dazu beginnen, was es bedeutet, wenn Kurse oder Seminare an öffentlichen Bildungseinrichtungen von privaten Sponsoren organisiert und finanziert werden.

Sofia: Ich denke, die Verflechtung von Privatkapital und staatlichen Universitäten muss vor dem Hintergrund der Reformen des europäischen Bildungssystems im Zuge des Bologna-Prozesses analysiert werden: Aufgrund der Kommodifizierung von Wissen und der Privatisierung von Bildung wurden Universitäten für Banken interessant. Auf der einen Seite machen die Banken ein Geschäft daraus, Studierenden Kredite anzubieten, die nach dem Studium zurückgezahlt werden müssen; was etwa in Italien der Fall ist, wo die Implementierung des Bologna-Prozesses viel weiter fortgeschritten ist als in Österreich. Auf der anderen Seite nehmen die Banken auch immer mehr Einfluss auf die Lehrinhalte.

Albert: Letztes Semester wurde am Institut für Philosophie der Universität Wien eine Ringvorlesung in Kooperation mit der Ersten Bank veranstaltet. Titel war Corporate Social Responsibility und MitarbeiterInnen der Bank sprachen über die ökologische und soziale Verantwortung von Wirtschaftsunternehmen. Als der Rektor und der Generaldirektor der Bank die Reihe vorstellten, haben einige StudentInnen ihren Unmut geäußert und kritische Fragen gestellt. Diese wurden sofort abgeblockt. Anstatt mit den Studenten zu diskutieren, haben die beiden Männer eine öffentliche Diskussion darüber ausgetragen, wer reicher ist und mehr Anteile der Bank besitzt.

Anja: Erwähnenswert ist auch, dass die Erste Bank drei Stipendien à 500 Euro ausgeschrieben hat, für StudentInnen, die sich in ihrer Diplomarbeit mit Themen aus der Ringvorlesung befassen.

Petr: Obwohl die Vorgehensweise der ERSTE Stiftung an der Akademie weniger rustikal war, steckt doch die gleiche Logik dahinter: Inhalten, die aufgrund von Geschäftsinteressen verbreitet werden sollen, soll eine akademische Legitimation verschafft werden.

Ana: Es ist interessant zu sehen, welche Form der Zusammenarbeit bei uns gewählt wurde, um die Intervention von privatem Kapital in die öffentliche Bildungseinrichtung zu legitimieren: Partner ist der österreichische Ableger einer internationalen NGO, des World University Service, der eigentlich nicht mehr ist als eine Kulisse, ein reines Phantom zur Tarnung der...

Judith: ...Entschuldige, dass ich Dich unterbreche. Aber: Wenn alle dem so kritisch gegenüber stehen, warum haben wir dann nicht protestiert oder die Veranstaltung boykottiert, anstatt sie mit zu organisieren?

Ana: Gute Frage. Das Problem ist, dass wir es hier mit einem Dilemma zwischen kapitalistischem Interesse und kolonialer Ignoranz zu tun haben. Ohne die Vorlesungen hätten wir nie die Chance gehabt, ProfessorInnen aus Osteuropa an der Akademie zu hören. Wer hätte sie eingeladen und bezahlt?

Anja: Aber warum war die Resonanz so gering? Fast alle ZuhörerInnen waren aus unserer Klasse. Weit und breit keine ProfessorInnen von anderen Instituten, nicht einmal jemand von den Kunst- und Kulturwissenschaften.

Petr: Das Desinteresse kann eigentlich nur mit einer Art „kolonialem Ranking“ erklärt werden: Lehrende aus Afrika, Asien, Lateinamerika aber auch aus Osteuropa sind an der Akademie mehr als unterrepräsentiert. Sie werden übergangen – aus reiner kolonialer Ignoranz.

Ana: Du hast völlig recht. Es ist schon seltsam, dass ausgerechnet diese Klasse angefragt wurde, die Vorlesungen mit zu veranstalten, wo es doch ProfessorInnen im Institut für Kunst- und Kulturwissenschaften gibt, die diese ganzen Inhalte lehren. Die Vorlesungen haben ja nichts Exotisches oder Neues erzählt. Es ging um Kubismus, Konzeptuelle Kunst, Moderne, Postmoderne, diskursive Fassung, politische Kunst – alles gängige Themen in Kunstgeschichte und -theorie, für die kein hoch spezialisiertes Wissen benötigt wird. Außerdem war ja alles in mundgerechten Häppchen vorbereitet: Die Auswahl der Vortragenden war bereits getroffen und die Veranstaltung vororganisiert, es brauchte nur noch ein bisschen guten Willens, um alles in die Tat umzusetzen.

Petr: Diese Ignoranz der anderen ProfessorInnen ist symptomatisch für die politische Repräsentation des Ostens im Westen. Wenn man eine West-Zeitung nach Nachrichten aus dem Osten durchsieht, stellt man schnell fest, dass der Osten in ökonomischer, nicht aber in kultureller Hinsicht existiert.

Brian: Das ist doch Blödsinn! Es gibt kein ökonomisches Interesse ohne ein kulturelles oder umgekehrt!
Albert: Das stimmt, kulturelle, ökonomische und politische Interessen sind immer miteinander verflochten. Der Begriff „ Mitteleuropa“ bezieht sich auf das Territorium der früheren Kronländer der Österreichisch-Ungarischen Monarchie. Hier in Wien wird das gemeinsame kulturelle Erbe der Nachfolgestaaten ja immer wieder hervorgehoben, wobei auf die hegemoniale Position Österreichs als zentrale Macht dieses „Imperiums“ natürlich nicht vergessen wird. Mit dem Ende des Kommunismus haben die österreichischen ImperialistInnen ihre Chance kommen sehen, in dieser Region wieder an die Macht zu kommen, und zwar mithilfe ökonomischer Expansion. Die staatliche Politik, speziell der Konservativen, hat in den vergangenen 20 Jahre diese neokoloniale Expansion forciert und wird das weiter tun. Es ist kein Zufall, dass ein Unternehmen wie die Erste Bank, eine Vorreiterin dieser Expansionspolitik, den Konservativen so nahe steht. Und es ist kein Zufall, dass die politischen Schlüsselfiguren der Wiederbegründung Mitteleuropas, wie etwa der frühere ÖVP-Obmann Erhard Busek, oft auf Podiumsdiskussionen der ERSTE Stiftung zu sehen sind…

Anja: Lasst uns nochmals über den Titel des Seminars nachdenken, der offen ausdrückt, was mit „schreiben“ gemeint ist. Und zwar: „Wir sind jetzt, in genau diesem Moment, im Begriff, diese Geschichte zu erschaffen.“

Ana: Der Begriff „schreiben“ ist auf der einen Seite irrsinnig arrogant und ignorant, denn er scheint zu leugnen, dass eine bestimmte Geschichte schon existiert und von den Menschen aus dem so genannten Osteuropa geschrieben wurde. Auf der anderen Seite erzählt dieser Ausdruck so unverhohlen über die Intentionen der ErfinderInnen des Titels, weil er besagt, dass jetzt eine Finanzinstitution kommt und behaupten kann: „Das ist Mitteleuropa und wir schreiben seine Geschichte“. Das ganze zeigt wie wichtig eine Unterscheidung zwischen „schreiben“ und „umschreiben“ im Sinne von „neu schreiben“ ist.

Judith: Geschichte ist ja nichts Gegebenes. Schreiben ist ein performativer Akt und hat wiederum eine eigene Geschichte. Etwas „neu zu schreiben“ ist mit einem emanzipatorischen Anspruch verbunden. Es sieht so aus, als seien hier sowohl „schreiben“ als auch „neu schreiben“ durch eine Finanzinstitution besetzt und für ihre eigenen Interessen eingesetzt worden.

Petr: Dazu kommt, dass die Art, wie der Titel verfasst ist, auch einiges aussagt: Es gibt kein Fragezeichen, er scheint endgültig. Die Aussage lautet: „Was wir gerade tun, ist Geschichte zu schreiben – zu konstruieren“. Das hört sich nicht wie eine Einladung zur Diskussion an, es ist ein endgültiges Statement.

Albert: Zurückkommend auf die Interessen der Bank sollten wir die Kunstsammlung der Ersten Bank – Kontakt – nicht vergessen. Anliegen der Bank ist, den Wert der Sammlung zu steigern. Das geschieht durch den Aufbau eines ganzen Apparats zur Interpretation rund um die Sammlung, bestehend aus Zeitschriften, Publikationen, Seminaren und anderen Aktivitäten. Ein anderes Anliegen besteht darin, den Wert jener Territorien zu steigern, in die investiert wurde, indem gezeigt wird, wie zivilisiert diese Länder jetzt sind, und wie zivilisiert sie schon waren, als sie noch vom Kommunismus unterdrückt wurden.

Ana: Ich denke auch, dass die ERSTE das Seminar deshalb in Wien veranstaltet hat, um den ÖsterreicherInnen zu zeigen, dass diese Völker aus dem Osten kultivierte KunsthistorikerInnen und TheoretikerInnen haben, und nicht nur Putzpersonal und ungelernte Hilfskräfte. Dieses Interesse des Bankkapitals, das im Osten investiert, ist eindeutig gegenläufig zu einer Logik des österreichischen Kapitals, dass davon ausgeht, dass MigrantInnen kulturlos und nur zum Putzen österreichischer Toiletten zu gebrauchen sind.

Albert: Eine interessante Aussage, um zu erklären, warum die Vorlesungen auch nach Wien gebracht wurden war, dass die vortragenden ProfessorInnen so gute Arbeit geleistet hätten, dass sie es verdient hätten, ihre Positionen in Wien vorzustellen. Die Bank hat sie quasi mit einem Ausflug in die Reichshauptstadt belohnt.

Petr: Der Wunsch, die Geschichte da fortzusetzen, wo sie 1914 aufgehört hat – als ob seitdem nichts passiert wäre – ist für die neokolonialen Aktivitäten Österreichs sehr charakteristisch und hängt mit dem österreichischen Trauma des Provinzialismus zusammen. Obwohl Österreich immer ein Teil des Westens war, war es nach 1914 von den maßgeblichen kulturellen Diskursen abgeschnitten. Das Seminar folgt ebendieser Logik: Das Vergangene schnellstmöglich vergessen, Geschichte (neu) schreiben und das Hoheitsgebiet „Mitteleuropa“ (wieder-) herzustellen.

Albert: Wenn man sich ansieht, welche Arbeiten in die Kontakt-Sammlung Eingang gefunden haben, und damit Teil der von der ERSTEN geschriebenen Kunstgeschichte sind, fällt auf, dass der Sozialistische Realismus völlig ausgeblendet ist. Berücksichtigt werden nur künstlerische Positionen mit kritischer Haltung gegenüber den kommunistischen und sozialistischen Regimes.

Ana: Das ist wahr. Mir fällt dazu der Text von Piotr Piotrowski ein, den wir zur Vorbereitung auf das Seminar gelesen haben: „From the Politics of Autonomy to the Autonomy of Politics“. Aus diesem geht hervor, dass die ERSTE nicht nur rein formalistische Kunst sammelt, sondern auch völlig opportunistische Arbeiten, und diese als politisch und regimekritisch interpretiert, schlicht und einfach deswegen, weil sie in der Form konzeptueller Arbeiten ausgeführt wurden.

Petr: Beispielsweise die Arbeiten von Július Koller, Jiří Kovanda oder Edward Krasiński…

Albert: Ganz genau. Etwas total Apolitisches wird im Nachhinein zur Opposition gegen die sozialistischen Regimes stilisiert. Das ist ein zutiefst ideologischer Ansatz.

Ana: Eigentlich wird Kunstgeschichte, genauso wie Geschichte im Allgemeinen, immer von einem bestimmten Blickwinkel aus konstruiert. Und das ist immer ein ideologischer Blickwinkel. In diesem Fall übernimmt die Bank ein Konzept aus der emanzipatorischen Politik und verwendet es im Sinne des Kapitalismus. Das muss erkannt und sichtbar gemacht werden. Das Seminar muss in dieser Logik gelesen werden.

Petr: Eigentlich ist die Strategie der Bank sehr schlau. Im ehemaligen Osten hat es nie Geld für Kultur gegeben, außer für staatliche oder folkloristische Propaganda, ein Phänomen, dessen Wurzeln in der kommunistischen Vergangenheit liegen. Private Stiftungen waren die ersten, die diese Situation erkannt haben und vor Ort intervenierten. Die Erste Bank ist auf diesem Gebiet ziemlich marktbeherrschend. Das heißt: Praktisch jedes Kunstprojekt in „Mitteleuropa“ wird durch die ERSTE finanziert, gleichzeitig ist das auch die einzige Geldquelle für lokale AkteurInnen…

Ana: Bezeichnend ist auch, dass die ERSTE Stiftung nicht nur Mittel über offen ausgeschriebene Stipendien vergibt, sondern eigene Projekte initiiert, und so die Szenen viel weitgehender beeinflusst. Das Seminar ist nur ein Beispiel…

Olga: Wir müssen bedenken, warum die Menschen bereit sind, bei diesen neokolonialen Prozessen mitzumachen. Gandhi hat gesagt, dass die Universalisierung des Imperialismus nicht allein durch Gewaltanwendung und das Kapital erklärt werden könne. Vielmehr resultiere sie daraus, dass viele kolonisierte Menschen sich aus unterschiedlichen Gründen freiwillig damit einverstanden erklärt hätten.

Petr: Ich muss zugeben, dass ich das Eingreifen der ERSTE Stiftung im Osten eine Zeitlang sehr geschätzt habe, weil dadurch – etwa in Tschechien und der Slowakei – die monopolisierten und hegemonialisierten Szenen aufgebrochen wurden. Die Kunstszenen hatten sich dort nach 1989 simultan zu den ersten Versuchen, einen Markt für Kunst zu etablieren, entwickelt; der Formalismus der 60 er und 70 er dominierte alles. Und mit ihm eine Clique von Männern, die auf einmal die Macht innerhalb der früheren intellektuellen Avantgarde aus der kommunistischen Ära neu verteilten. Eine neue Diktatur löste die alte ab, Kritik war nicht erlaubt. Die ERSTE hat in diese Situation eingegriffen und eine sich neu herausbildende Hegemonie verhindert.

Ana: Ja, und dann haben sie selbst mit der Monopolisierung und dem Aufbau der neuen Hegemonie begonnen! Es ist eine verzwickte Situation. Die so genannten Ost-Intellektuellen wollen die Hegemonie des dominanten internationalen Westkunstdiskurses brechen, aus dem sie schon immer ausgeschlossen waren. Aber die einzige Möglichkeit, das zu schaffen, läuft über West-Stiftungen – das ist total paradox.

Olga: Also sind sie letztendlich korrumpiert worden?

Judith: Dann könnte man sagen, dass wir alle korrumpiert worden sind. Oder würdest Du niemals eine Arbeit an die ERSTE verkaufen? Das bezweifle ich. Ok, vielleicht würdest du nicht… Aber eigentlich finde ich, wir sollten über die Frage diskutieren, was wir tun wollen. Natürlich bewegen wir uns alle in einem bestimmten System, aber heißt das, dass alles egal ist? Gesetzt den Fall, ein Unternehmen, das Waffen produziert und eine Kunstsammlung hat, klopft an und sagt: „Hallo, wir würden gerne ein Seminar an Ihrer Universität veranstalten!“ – was würden wir tun? Ist alles egal?

Albert: Ja, wo ist die Grenze?

Olga: Aber der Punkt ist doch, dass dieses ERSTE-Seminar in die Kategorie „kritisches Projekt“ fällt, weil es eine versteckte Geschichte beleuchtet. Es ist ja kein vordergründig kommerzielles Projekt.

Brian: Ich denke, es geht auch um die Frage, welches Wissen wurde produziert, und welches wurde gelehrt. Die ERSTE sucht Vortragende und Inhalte aus, und organisiert ihre Aktivitäten sehr umsichtig. Kapitalismus in den Händen der ERSTEN sieht sehr friedlich aus.

Judith: Es gibt eine Tradition des Kultursponsorings, die das Andere ausschließt. Als wir zu den Tranzit Workshops nach Bratislava gefahren sind, um die Ausstellung über Kommunismus zu sehen, – wie war nochmal der Titel?

Olga: Communism never happened.

Judith: Genau. Ich erinnere mich jedenfalls, dass im Rahmen des Projekts eine Zeitung mit den theoretischen Texten herausgegeben wurde. Ich habe mir kritische Theorie mit Bezug zum Kapitalismus erwartet. Aber nichts dergleichen. Das gleiche passiert hier in diesem Seminar, wo es kein Gesprächsangebot zur Gegenwart gegeben hat – zum Kapitalismus nämlich. Der Auftrag heißt vielmehr: Schreiben der „Kunstgeschichte Mitteleuropas“.

Petr: Die Frage ist, welcher Diskurs wird akzeptiert, welcher nicht, und warum? Die Bank bekommt dann ein Problem, wenn der Diskurs beginnt, das kapitalistische System der Reproduktion zu stören. Und deshalb ist es für sie erst einmal nötig, den Raum von jeglicher vorheriger Ideologie zu säubern.

Ana: Und dann besteht kein Risiko für die Investitionen und für das ganze System an sich!

Petr: So gesehen hat mir der Vortrag von Edit András gefallen. Sie hat viel über das kollektive Trauma der Säuberung eines Raumes und der Einsetzung einer neuen Ideologie mitsamt ihrer neuen Werte gesprochen. Aber nicht nur in Bezug auf das kollektive Trauma im Osten, sondern auch im Westen! Das nämlich durch die Unsicherheit entstanden ist, wie mit dem Osten nach dem Ende des Kalten Krieges umgegangen werden soll.

Ana: Zusammenfassend lässt sich sagen, dass das Seminar eine Reihe problematischer Aspekte mit sich brachte. Das beginnt für mich bei der Konzeption und der grundsätzlichen Entscheidung, kein spezifisches Thema zu behandeln. Ich meine, das einzige was die Lectures miteinander verbunden hat, war der Umstand, dass die Vortragenden allesamt aus dem Osten kamen. Es sollte endlich eingesehen werden, dass es sich bei solchen „Quarantänekonzepten“ um einen ziemlich antiquierten Zugang handelt.
Albert: Ein weiteres Problem war, dass der Großteil der Vortragenden die hegemonialen Unterteilungen innerhalb der Kunstgeschichte als gegeben annahm, beispielsweise Vojtech Lahoda oder Mart Kalm. Andere, wie Piotr Piotrowski, der über das Zentrum und die Peripherie sprach, oder Miško Šuvaković, der die Vielfältigkeit konstruierter Kunstgeschichten behandelte, vernachlässigten die Machtstrukturen und Institutionen, die der Kunstgeschichte und dessen wichtigstem Regulator, dem Kunstmarkt, zugrunde liegen.

Petr: Ich würde sogar einen Schritt weitergehen und behaupten, dass fast alle Vortragenden den neoliberalen Kapitalismus als Regulator der Kunst außer Acht ließen. Das ist insofern beachtlich, als das Seminar von einer Bank initiiert wurde, die eine der größten Investoren im ehemaligen Osteuropa ist. Darüber hinaus lässt sich an der Auswahl der SprecherInnen das neoliberale Prinzip erkennen, nationale Räume nun in wirtschaftliche Zonen umzugliedern: In das Seminar wird mit Estland ein baltisches Land aufgenommen, das per historischer Definition rein gar nichts mit „Mitteleuropa“ zu tun hat, scheinbar hat aber die Bank dort gewisse geschäftliche Interessen.

Olga: Aber über diese Themen hat ja niemand reflektiert. Ich fand es problematisch, dass viele der ProfessorInnen unsere kritischen Fragen nicht beantworten und nicht mit uns diskutieren konnten – oder wollten. Piotr Piotrowski beispielsweise, der das Seminar konzipiert und die Vortragenden ausgewählt hat, oder Jan Bakos, der sogar eine Analyse mit dem Titel „Das Konzept ‚Mitteleuropas’ als künstlerische Region“ verfasste, keiner von ihnen ging auf unseren Versuch, eine Diskussion in Gang zu bringen, ein.

Ana: Eigentlich hat Ljiljana Blagojević als einzige nicht gezögert, die gegenwärtigen Themen der Globalisierung und des Kapitalismus kritisch und vor allem ohne Umschweife anzusprechen. Gut, Edit András hat das auch getan, allerdings auf eine völlig andere Art und Weise. Alle anderen Vortragenden verfolgten entweder formalistische oder anachronistische Konzepte.

Albert: Mart Kalm vertrat sogar nationalistische Positionen. Sein Vortrag „Was ist estnische Architektur“, in dem er den sozialen Wohnbau der Sowjetzeit völlig ausklammert und kleinbürgerliche Einfamilienhäuser als identitätsstiftende Bauformen ausweist, war ein klarer Beitrag zur nationalen Identitätskonstruktion Estlands. Seine russophobe Terminologie ist uns allen noch von der vorbereitenden Lektüre seines Textes „Sowjetischer Volkswohnbau und sein ungewisses Erbe in Estland“ in Erinnerung, in dem er die RussInnen als „Horden“ bezeichnet und damit auf BarbarInnen verweist, die aus dem Osten kommen, um das zivilisierte Europa zu unterwerfen.

Ana: Meiner Meinung nach war das Gesamtkonzept des Seminars ganz einfach schwach, denn es brachte keinerlei neue Betrachtungen. Die Reflektion über österreichische konservative Politik und deren neokoloniale Bestrebungen wurde völlig ausgespart. Die Art und Weise seiner Durchführung stand im krassen Gegensatz zum ursprünglichen Anspruch der VeranstalterInnen, nämlich „Kunstgeschichte horizontal zu schreiben“ (wie Piotr Piotrowskis Vortragstitel ankündigt). Was mich aber am meisten störte, war, dass die gegenwärtigen Probleme des neoliberalen Kapitalismus in Zusammenhang mit der Finanzkrise völlig ignoriert wurden.

Petr: Wir dürfen nicht vergessen, dass angesichts der gegenwärtigen Finanzkrise nicht nur die Banken stark ins Wanken geraten sind, sondern ihre so-gut-wie-Verstaatlichungen durch die enormen öffentlichen Subventionen die gesamte Logik des neoliberalen Kapitalismus auf den Kopf stellen. In dieser Situation ist es alles andere als klar, ob die Banken es sich künftig leisten können, Aktivitäten solcherart weiterzuführen. Andererseits scheint es nicht so, als wären wir ZeugInnen der letzten Veranstaltung dieses Typus geworden, denn das Modell, wirtschaftliche Zonen mithilfe kultureller Unternehmungen zu erschließen, so wie es beispielsweise von der Erste Bank vorgezeigt wurde, dürfte immer noch attraktiv sein: Vor einigen Tagen bekam ich ein Magazin namens „Culture in Centrope“ in die Hand, gemeinsam finanziert von Österreichs östlichen Bundesländern und der Raiffeisenbank.

Eduard Freudmann, geboren 1979 in Wien. Studierte an der Akademie der bildenden Künste in Wien und an der Bauhaus-Universität Weimar. Forschungen über Schnittpunkte von Kunst und Politik, Macht und sozialen Kontexten. Assistenzprofessor an der Akademie der bildenden Künste in Wien. Lebt in Wien und Belgrad.

Ivan Jurica, geboren 1972 in Bratislava. Seit 2003 Student an der Akademie der bildenden Künste in Wien, PCAP-Klasse, diplomierte im Juni 2009. Arbeitet als Kunstvermittler und freischaffender Künstler. Mitglied der Künstlergruppe Isztvana. Lebt in Wien und Bratislava.

Ivana Marjanović, geboren 1979 in Belgrad. Studium der Kunstgeschichte an der Universität Belgrad, arbeitet an ihrer Dissertation an der Akademie der bildenden Künste in Wien und als Kuratorin. Von 2005 bis 2009 Mitbetreiberin der Kontekst Galerie in Belgrad. Lebt in Wien und Belgrad.


Weitere Informationen:
http://www.erstestiftung.org/patterns-lectures
Teile des Seminars sind online abrufbar: http://pcap.akbild.ac.at/wceah






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