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LUCIANA LAMOTHE ANARCHISMUS IN BUENOS AIRES
Zeitschrift Umělec
Jahrgang 2007, 4
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LUCIANA LAMOTHE ANARCHISMUS IN BUENOS AIRES

Zeitschrift Umělec 2007/4

01.04.2007

Chris Gill | anarchie | en cs de es


Ich hasste den unterdrückenden Gehorsam meiner Schultage. Folglich waren die Kinder, mit denen ich mich anfreundete, deutlich eher darauf bedacht, Chaos zu verursachen, als zu lernen. Schamhaare in den Butterbroten, Schlamm in
en Haaren, eine gesunde Verachtung für den nationalen Lehrplan: an jeder Schule gab es solche Kinder. Ich war jedoch überrascht, als ich schließlich in die Arbeitswelt wechselte, dass hier die Unterdrückung sogar noch systematischer verwurzelt war. Also war ich weiterhin zumeist mit den Unruhestiftern in dieser neuen Umgebung befreundet.
Ich schäme mich nicht, dass es dieses unterentwickelte Gespür dafür war, die feinen Unterschiede zwischen vernünftigem und unsozialem Verhalten zu verstehen, der mich ursprünglich zur Kunst von Luciana Lamothe trieb.
Es ist einfach, diese anarchistische Argenti-
nierin aus dem Bereich der visuellen Kunst in eine Schublade zu sperren – eine Künstlerin, die Buenos Aires verwüstete, indem sie Pflanzentöpfe in geräumigen Einkaufszentren umwarf, öffentliche Toiletten zerstörte und die Bewohner von teuren Apartmenthäusern nachts durch das gleichzeitige Betätigen von zehn Türklingeln wach hielt. Solch schelmische Aktionen, sind allerdings – egal, wie lustig sie sind – nicht repräsentativ für ihre Arbeit.
Als ich Luciana Lamothe über den verspielten Vandalismus in ihrer Kunst befragte, hatte sie viel dazu zu sagen: „Ich mag es zu denken, dass jede Form von Kunst grundsätz-lich einen Funken von Anarchismus besitzt, vornehmlich aus ästhetischem Blickwinkel. Was ich mit meiner Arbeit tue, ist Aktionen durchzuführen, die von einem künstlerischen Gewissen herrühren: etwas zu durchlöchern, Dinge zu bewegen, den Zugang zu verbauen, Menschen durch das ständige Drücken einer elektrischen Klingel zu erschöpfen, oder für ein spektakuläres Durcheinander zu sorgen. Meine Aktionen sind heimlich, ohne Autorisierung; sprich, sie geschehen außerhalb der etablierten Kunstinstitutionen. Das ist es, was meine Arbeit anarchistisch macht.“
Ich wurde zum ersten Mal auf Lamothe aufmerksam, als ich Autor Material sah (2005). Dieses zehnminütige Kurzvideo ist sowohl ein visueller Vorschlaghammer als auch der empfindliche Apparat eines Chirurgen. Die Eröffnungssequenz – möglicherweise der Teil des Videos mit dem stärksten Kultsymbolcharakter – ist ein klares Indiz dafür: hier wird gezeigt, wie Lamothe den Spülknopf einer Toilette kaputtmacht, ihn dann vorsichtig mit der Tür verbindet, um ihn kurz darauf in die Toilette zu werfen. „Die Toilette ist in einem Einkaufszentrum von Buenos Aires. Was mich hier interessiert hat, war eine Raumsituation zu schaffen, die gleichzeitig Skulptur und Paradoxon ist. Ich drehe den Knopf von der Toilette ab, ich werfe ihn in die Toilette, er ist aber auch zeitgleich an die Tür gebunden. Ich bin also eingeschlossen und muss oben raus. Später muss dann jemand die Tür einschlagen, um den Knopf vom Grund der Toilette wieder hoch zu holen.“ Vor ihrer Flucht vom Ort des Geschehens schneidet Lamothe noch das Band durch und lässt den Rest verschwinden, womit sie gleichsam komplette Kontrolle über diesen Raum demonstriert.
Verschiedene Konzepte von Raum werden durch das gesamte Video von Autor Material hindurch erforscht. Eine intensive Sequenz zeigt Lamothe beim Anfertigen einer Kohleradierung vom schattenhaften Umriss eines Radios, aus dem Mozarts Requiem ertönt. In einer anderen Sequenz sieht man die Künstlerin, wie sie hinter dem Rad eines Schaufelbaggers ein riesiges Loch gräbt. Begrenzter Raum ist das zentrale Thema einer Reihe von Fotografien, die Lamothe an Umelec geschickt hat. Die Sammlung enthielt Bilder von verriegelten Türen mit den Spuren eines versuchten Einbruchs, von den fließenden Resten eines geleerten Farbtopfes sowie von einer verbarrikadierten Ladenfront.
Als Lamothe die Toilette in der oben beschriebenen Szene verlässt, blickt sie kurz in den Spiegel, und diejenigen Zuschauer, die genau hinschauen, erhaschen einen flüchtigen Blick auf ihr künstlerisches Werkzeug. Autor Material wurde von Lamothes selbst gebauter Stirnbandkamera aufgenommen. Diese öffnet dem Betrachter ein persönliches Fenster in Lamothes Blick. Sie befreit ihren ganzen Körper und bedeutet, dass sie Dinge ohne Hilfe – und vielleicht noch wichtiger, ohne Zeugen – einfangen kann. Solch methodische Selbstbeobachtung ist nicht neu; sie ist jedoch notwendig für eine Künstlerin, die möglicherweise schnell fliehen muss. Vielleicht liegt es an der Kamera, dass Lamothe damit prahlen kann, nie Probleme mit der Polizei gehabt zu haben.

Kritikerin des Materialismus
Lamothes Interesse an Räumen und den Materialien, die zu deren Konstruktion benutzt werden, offenbaren auch eine Beunruhigung über den Materialismus. Sie sieht ihre visuelle Kunst und die damit verbundenen Fluchtaktionen als einen Angriff auf das exzessive Konsumdenken und den Materialismus in der modernen argentinischen Gesellschaft. „Meine Aktionen sind mit der Materialität von Dingen konfrontiert und attackieren den Besitz dieser Dinge. Ich arbeite immer an Orten, zu denen ich persönlich keinerlei Verbindung habe. Es interessiert mich mehr als alles andere, die Realität des Materials auseinander zu nehmen.“
Diese Beschäftigung mit Raum und Material spiegelt sich auch in dem Titel Autor Material wieder, der, wie die Künstlerin erklärt, aus folgendem Grund gewählt worden ist: „Der geistige Autor ist derjenige, der ein Verbrechen plant; der materielle Autor ist der, der es ausführt. Er ist der zu bezahlende Killer. Mit den Worten „materiell“ und „Autor“ so zu spielen, ist direkt Teil der Kunst. Andererseits sind meine Aktionen auch fast immer daraufhin ausgerichtet, dass sie Änderungen im Material hervorrufen.“
Mit ihrem weblog Communion macht sich Lamothe auch das Internet als Medium für ihre Materialismuskritik zunutze. Die immer noch spürbaren finanziellen und sozialen Folgen der verheerenden argentinischen Wirtschaftskrise aus dem Jahr 2001, die Millionen von Menschen verarmt zurückließ, werden mit einer Reihe von Fotos über den Schwarzmarkt thematisiert. Die Bilder zeigen Transitlaster, die so mit Coca Cola beladen sind, dass sie geschüttelten Flaschen ähneln, die kurz vor der Explosion durch die Abnahme des Deckels stehen; Busse, die Kästen mit Budweiser unter den herkömmlichen Passagiersitzen verstecken; und bewaffnete Zollbeamte an Straßensperren, die mit Zigarettenanzündern überladene Lastwagen durchsuchen. Sie unterstreicht jedoch, dass sie an Politik lediglich ein ästhetisches Interesse habe: „Schmuggel interessiert mich nicht mehr als jede andere geheime Aktion.“
Lamothe scheint sich mehr für die alltäglichen, die einfachen und die schönen Seiten des Lebens zu interessieren. Eine Sequenz in Autor Material zeigt sie, wie sie verträumt unter klarem, blauen Himmel in einem Boot liegt – mit einer rostigen Kettensäge zwischen ihren schmutzigen, fleischigen Beinen. Solch gelassene Bilder und natürlicher Lärm werden dann kurzen Einspielungen von industriellen Straßenwäschern, harter Arbeit auf Baustellen und dem Laserrausch einer Videoarkade gegenüber gestellt. Diese innovative Manipulation von Bild und Klang ist ein konstantes Thema in Autor Material. Von der unterdrückten, schweren Atmung im begrenzten Raum einer Toilettenkabine und den sanften Wellen und zirpenden Grillen einer entspannten Bootsfahrt bis hin zu dem ohrenbetäubenden Gebell von Türklingeln und den „Holas“ der müden und bestürzten Argentinier: Lamothe ist unübertroffen darin, die Laute einer Situation dem Betrachter näher zu bringen. „Die Geräusche sind extrem wichtig. Sie sind für mich das, was Sinneswahrnehmungen erzeugt. Sie sind eine Summe des Dramas, das eine Situation verstärkt.“







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