Zeitschrift Umělec 2007/2 >> Editorial | Übersicht aller Ausgaben | ||||||||||||
|
|||||||||||||
EditorialZeitschrift Umělec 2007/201.02.2007 Marisol Rodrigues, Tony Ozuna | editorial | en cs de |
|||||||||||||
In den frühen Neunziger Jahren trat Mexiko der NAFTA bei, also dem Nordamerikanischen Freihandelsabkommen. Während das Land dies zögerlich und mit verdächtiger Geschichte tat, begrüßten die Vereinigten Staaten dieses zweifelhafte Arrangement als universalen Sieg von Freiheit und Gleichheit – so wie sie es immer tun, wenn es um etwas geht, von dem vornehmlich die Vereinigten Staaten von Amerika profitieren.
Mittlerweile ist das Bedauern auf beiden Seiten des Grenzzauns gleichermaßen ausgeprägt, und chauvinistische Politiker zumeist aus den nördlichen Teilen Nordamerikas wollen die Landkarte neu schreiben, indem sie eine gewaltige, zusammenhängende Landmasse – die südlichen Teile von Kalifornien, Arizona, New Mexico und Texas, ein Land, das geographisch mit den mexikanischen Staaten jenseits der Grenze untrennbar verbunden ist – in Nord- und Lateinamerika umbenennen. Als ob das einen Unterschied machen würde. Sogar die patriotischen Milizen wissen ganz genau, dass es über längere Zeit keinen großen Unterschied machen würde. Die Sache ist doch, dass es nie eine realistische Grenze zwischen den Vereinigten Staaten und Mexiko geben wird – oder, anders ausgedrückt, zwischen Anglo-Amerika und Lateinamerika – weil solch eine Grenze von Anfang an nie existiert hat. Die zukünftige Grenze wird das Ergebnis einer politisch motivierten Zerstückelung von natürlicher Landschaft sein: sie wird mitten durch Staaten und Städte verlaufen, von der Spitze Südamerikas, Feuerland, bis zum nördlichsten Staat der Union, Alaska. Belize, das zwischen Mexiko und Guatemala kauert, ist kein lateinamerikanischer Staat. Drei Viertel von Los Angeles jedoch sind eine lateinamerikanische Stadt. Das gleiche gilt für Miami und noch mehr für Tausende von kleinen und großen Städten, die im Südwesten verstreut sind. All diese Gemeinden gedeihen mehr oder weniger friedlich seit Jahrzehnten, wenn nicht seit Jahrhunderten. Diese Ausgabe von Umelec nennt sich „Lateinamerikanische Ausgabe“; doch die Grenze, an der Lateinamerika beginnt und endet, ist keine eindeutige und ist es auch die meiste Zeit der modernen Geschichte nicht gewesen. Chicago, New York und Los Angeles mussten hier berücksichtigt werden. Mexikanische Künstler dominieren in dieser Ausgabe, und es gibt zentrale Artikel über die offiziellen Grenzregionen, Tijuana und Juarez – Migrationsräume, in den anglo- und lateinamerikanische Kultur aufeinander treffen, und sich gegenseitig besonders intensiv widerspiegeln. Es gibt auch einige der regelmäßigen Beiträge in diesem Magazin, das demnach keine exklusive, mexikanische oder lateinamerikanische Angelegenheit ist. Es schließt auch nicht alle Länder der Region mit ein, da es nicht unsere Absicht ist, dies zur ersten und letzten Ausgabe über diesen Kulturraum zu machen. Davon abgesehen haben Mexikaner, Uruguayer, Tschechen, Polen und andere – egal, ob sie in Europa oder irgendwo auf dem amerikanischen Kontinent leben – etwas gemeinsam. Die Menschen dieser Länder im Allgemeinen, aber die Künstler unserer Zeit im Besonderen, verbindet eine Hassliebe mit dem „Westen“, womit der anglo-amerikanische Raum gemeint ist. Außerdem haben die Länder südlich der US-Grenze teilweise die gleichen Sorgen und Stärken, die die Tschechen und andere osteuropäische Länder des ehemaligen Sowjetblocks in ihrem Verhältnis mit Westeuropa (und den Vereinigten Staaten) haben. Die Gründe hierfür kann man aus historischem, politischem, soziologischem, wirtschaftlichem, kulturellem und sogar anthropologischem Blickwinkel betrachten. In jedem Fall erklären die meisten Texte in dieser Ausgabe auf ganz unterschiedliche Weise, was zum Teufel ich hier überhaupt sagen will. Tony Ozuna In der ersten Hälfte des Jahres 2006 wucherten in den Zeitschriften, Kunstmessen und Feuilletons die Aussagen, dass dieses Land sich in „Die neue Hauptstadt der Kunst“ verwandelt habe. Dies behauptete eine bekannte Zeitschrift auf ihrem Titelbild, begleitet von der Fotografie „Papalotes Negros“ (Schwarze Drachen) von Gabriel Orozco, eine Arbeit aus dem geradezu hyper-aktuellen 1997. Etwas jüngeren Datums ist die erste offizielle Teilnahme Mexikos an der 52. Ausgabe der Biennale von Venedig, die Barbara Perea und Príamo Lozada – zu Lasten des elektronischen Künstlers Rafael Lozano-Hemmer – verantworteten. Und nun vermehren sich die kleinen Galerien in Mexiko-Stadt und erklären, welch’ wertvolle Unterstützung sie jungen Künstlern „voller Ideen“ sind. Die „Sammlung Jumex“ stellt eine weitere Neuinterpretation ihres klobigen Besitzes aus; selbiger Orozco präsentiert eine Retrospektive – oder eher Anti-Retrospektive, wie Miguel Alejandro González Virgen sie genannt hat – im Palast der Schönen Künste; Spencer Tunick schafft es, 20.000 nackte Menschen – mehr als in Barcelona! – auf dem Platz der Verfassung in Mexiko-Stadt zusammen zu treiben; die Ausstellungen, eine nach der anderen, kommen und gehen; Cocktailparties, Einweihungen, das „Name Dropping“ ist in Mode… Ungeachtet dieser überwältigenden Beweise fällt es mir schwer, mich diesem kollektiven Enthusiasmus anzuschließen und mutig „ˇViva México!” zu schreien. Zweifellos ist all das Vorgenannte ein Fortschritt – in eine unbekannte Richtung – und eine wichtige Anerkennung für die Künstler, die ein ganzes Leben dem Erreichen der kreativen Bequemlichkeit gewidmet haben, in der sie sich jetzt befinden. Aber das Ergebnis ist doch, dass genau jetzt, wo wir uns in die „Hauptstadt der Kunst” verwandeln, uns die Vorschläge ausgehen, die über eine höchst irritierende Buchstäblichkeit hinausgehen oder sich ein wenig von dem totalen konzeptuellen, visuellen und physischen Unverständnis entfernen, an dem ein bedeutender Teil der aktuellen Produktion leidet. Diesen Teil sieht man nur zu gut in Ausstellungen wie „PINK NOT DEAD“ von Maurici Gomulyky, die in dieser Ausgabe sehr gebeutelt wird, oder der Aufsehen erregenden und doch schrecklichen „We are nothing but the nerds they say we are“ der „Proyectos Monclova“, um nur einige zu nennen. In dieser Ausgabe von Umělec werden Sie bemerken, dass der Abschnitt New Faces fehlt. Im Laufe des Jahres, in dem wir an dieser Publikation gearbeitet haben, konnten wir – oder konnte ich – im Kunstbetrieb kein junges Angebot erkennen, das überraschte, auf eine noch nie gesehene Weise mit dem Publikum kommunizierte oder es provozierte. Vielleicht war ich zu blauäugig, als ich dachte, dass wir dieses Angebot finden würden, vielleicht hätten wir irgendeinen „Jungen voller Ideen“ nehmen sollen, der Zeichnungen stricheln würde – „Klar, ich kann hyper-realistisch sein, aber ich bin lieber naiv“ – mit bunten Farben und dubiosen Themen. Bedienen und erfreuen Sie sich in dieser Ausgabe an der mexikanischen Kunst so, wie sie ist, mit ihren Erfolgen und Fehlern, ihren Fortschritten und Fehltritten, ihren Klischees und… ihren neuen Klischees. Wir behaupten nicht, den roten Faden des Systems entdeckt, sondern lediglich eine neue Verbindung geschaffen zu haben, mit der die Leser – nicht nur die aus Mexiko – verstehen können, was es ist, was in diesem Land so vor sich geht und wie das zum Beispiel mit der Arbeit des Spaniers Javier Velasco zusammenhängt. Wir hoffen also, dass wir viele konträre Kommentare zu dem, was ich heute schreibe, erhalten werden, damit wir nach und nach anfangen können, diese Vorschläge zu sehen, die, während sie sich selber dem Kunstsystem zuschreiben, es durch Intelligenz und unbefleckte Qualität karikieren und sich in einem glänzenden Ergebnis niederschlagen. Für den Augenblick steuern wir unseren bescheidenen Beitrag dazu bei, um an diesen Punkt zu gelangen. Der wird sich dann sicherlich in einer zweiten Ausgabe über mexikanische Kunst widerspiegeln. Marisol Rodriguez
01.02.2007
Empfohlene Artikel
|
Kommentar
Der Artikel ist bisher nicht kommentiert wordenNeuen Kommentar einfügen