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Goshka Macuga: The Nature of the Beast. Whitechapel Gallery, London.
Zeitschrift Umělec
Jahrgang 2010, 1
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Goshka Macuga: The Nature of the Beast. Whitechapel Gallery, London.

Zeitschrift Umělec 2010/1

01.01.2010

Lizzy Le Quesne | lösungen | en cs de

Mit ihrer Installation The Nature of the Beast hat die in London wohnende und für den Turner Prize 2008 nominierte polnische Künstlerin Goshka Macuga einen einzigartigen Treffpunkt für öffentliche Begegnungen geschaffen. Gewagt stellt sie eine eigene Skulptur und eine Zusammenstellung aus altem und aktuellem Dokumentationsmaterial neben eines der größten Meisterwerke Picassos. Diese komplexe Installation zeugt von Sachkundigkeit und einem starken, inneren Antrieb. Sie geht der Beziehung von Ästhetik und Politik auf den Grund. So wird der Zuschauer auf subtile Art mit seiner eigenen Fehlbarkeit und Verantwortung als Mitglied der Gesellschaft wie auch potentiell lenkendes Element der Kultur konfrontiert.
Die Installation von Macuga ist die erste Ausstellung im Rahmen der neuen ganzjährigen Bloomberg Commissions in der frisch renovierten Whitechapel Gallery. Mit dieser Ausstellungsreihe sollen ganz besonders Werke unterstützt werden, die sich in irgendeiner Weise mit der Geschichte der Galerie auseinandersetzen. Macugas Beitrag zu dieser Idee greift einen bewegten Moment der Geschichte des Museums auf, von dem aus sie ein facettenreiches Netz spannt, das das momentane politische und kulturelle Umfeld sowie einen nervenaufreibenden Aspekt der menschlichen Natur miteinbezieht. 1939 wurde Picassos Meisterwerk Guernica in der Whitechapel Gallery ausgestellt. Diese erste und einzige Präsentation in ganz Großbritannien war Teil einer Ausstellung, die organisiert wurde, um Unterstützung, finanzielle Hilfe und eventuell sogar freiwillige Kämpfer gegen die Faschisten im Spanischen Bürgerkrieg zu gewinnen. Indem sie dieses Ereignis in ihrem eigenen Werk quasi nachstellt, will Macuga die Zuschauer vor dem Hintergrund des berühmten Gemäldes von Picasso dazu bringen, sich wieder stark zu machen und der Gemeinschaft anzuschließen – Werte, für die sich auch die Whitechapel Gallery einsetzt.
Die Galerie liegt im Londoner East End. Dieser von jeher ärmste und industriellste Teil der Stadt ist nicht nur Heimat zahlreicher Immigranten- und Flüchtlingsgruppen, sondern auch vieler britischer Arbeiter. 1901 wurde die ehemalige Bibliothek zu einer öffentlichen Kunstgalerie umfunktioniert, um so der armen Bevölkerung Londons bedeutende moderne Kunst zugänglich zu machen. Dabei standen die Identität und die Tätigkeit der Galerie immer im Zeichen von Gleichheit und Offenheit. Sie ist diesem Zweck bis heute treu geblieben – der Eintritt ist frei und sie verfügt über ein breites Programm an Gemeinschafts- und Bildungsarbeit. Mit ihrer Installation will Macuga diese Aufgabe hervorheben und ausweiten. Ganz im Sinn der Installationskunst informiert, provoziert und positioniert sie den Betrachter in eine direkte, persönliche und ethische Beziehung zur Welt. Sie zeigt die Fähigkeit der visuellen Kunst, tief bewegende moralische und politische Botschaften zu vermitteln, die Menschen aus allen Schichten wirkungsvoll ansprechen.
Macuga gelingt es, Verbindungen zwischen den offiziellsten Personen und Veranstaltungen (Colin Powell und die Vereinten Nationen, große internationale Kunstausstellungen) und den inoffiziellsten Gruppen (Anarchistengruppen, Amateurkünstler) herzustellen. Dies tut sie in einer Art und Weise, die die nachdenklichen Betrachter unausweichlich miteinbezieht und dazu zwingt, ihre jeweils eigene Sicht auf diese unterschiedlichen Standpunkte und Aktivitäten zu überdenken und die Bedeutung ihrer eigenen potentiellen Beteiligung an der Welt in der sie, wir, leben, in Frage zu stellen.
Die Installation ist außerordentlich komplex und vereinigt die verschiedensten Elemente und Materialien, die an sich bereits ein knappes Jahrhundert von Techniken und Denkweisen moderner und zeitgenössischer Kunst repräsentieren. Das Werk umfasst eine zweidimensionale Darstellung, eine Skulptur, bewegte Bilder, interaktive Umgebung, Dokumentationsmaterial und ein partizipatorisches Element. Teil der Installation ist eines der bedeutendsten Werke der Modernen Kunst (eine Tapisserie in Originalgröße von Picassos Gemälde Guernica), neben dem eine Skulptur von Macuga (eine kubistische Bronzestatue von Colin Powell), ein Dokumentarfilm (über den Spanischen Bürgerkrieg), ein handgewebter Teppich aus dem Nahen Osten (gerichtet an die Vereinten Nationen, mit Abbildungen vom Irak und militärischen Utensilien), ein Konferenztisch mit Stühlen, Vorhängen und Auslegeware im Bürostil, Archivmaterial über politische und kulturelle Geschehnisse von den 1930er Jahren bis heute sowie eine von Macuga erstellte Zeitung. Inhalt dieser Zeitung ist eine Auswahl des Ausstellungsmaterials und ein informatives Interview mit der Künstlerin und ihrem Kurator enthalten. Es findet sich aber auch eine Einladung der Künstlerin an jegliche Gruppen, egal, ob politischer oder anderer Natur, die den Raum und die Möbel kostenlos für Diskussionsrunden nutzen können. Dieses wesentliche Element macht aus dem zunächst „betrachtbaren“, das heißt passiven und symbolischen Werk, einen Ort für Unvorhergesehenes, für echte Interaktion zwischen Mitgliedern der Öffentlichkeit. Es schafft einen Raum, in dem Menschen zusammenkommen und auf authentische Weise interagieren können. Hier wird es ihnen ermöglicht, wahre Themen zu diskutieren und wohlmöglich Lösungen zu finden, die ihr Leben und somit auch die Gemeinschaft, in der sie leben, tatsächlich beeinflussen können. Die Teilnehmer sind für die Besucher der Galerie frei zu sehen und zu hören. Sie wirken an der fortdauernden Geschichte des Raums mit, wobei sie dem politischen, geschichtlichen und moralischen Aufruhr gegenüberstehen, der von der Installation geschaffen wird. Sie ist eine politische Geste, und aus diesem Grund müssen die Treffen uneingeschränkt zugänglich und öffentlich sein.
Bei dem gesamten Material geht es um die Themen Macht, destruktive Kräfte im Dienste der Macht, kollektive und individuelle Verantwortung und die Rolle kreativer und künstlerischer Bestrebungen in Kultur und Politik. Die vielfältigen Elemente sind lose miteinander verbunden und überlappen sich. Sie sind nicht fest oder sichtbar miteinander verbunden, und doch sind sie sich so nahe, dass sie in unvorhersehbarer und aufregender Einheitlichkeit aufeinander prallen.
Auf den ersten Blick sieht die Installation wie ein Sitzungsraum eines Unternehmens aus, in dem vor der enormen Tapisserie von Picassos Guernica ein runder Tisch in glattem, funktional-modernem Design mit Sesseln aus Chrom und Leder steht. Die Bronzebüste erinnert an ein dekoratives Kunstwerk in einer großen Vorhalle eines Geschäfts, und der blaue Vorhang an der Wand hinter dem Wandteppich verleiht einen erfrischenden, geschäftlichen Glanz. Dieser Effekt wird noch verstärkt durch die dem Raum eigene Förmlichkeit, mit unverputzten Ziegelwänden und gestrichenen Säulen. Beim Betreten ergreift einen ein Gefühl von strenger Autorität, Herausforderung und Verurteilung – ein Gerichtssaal, oder ein Sitzungssaal. Mich überkam ein unangenehmes Gefühl des Verhörtwerdens. Erschüttert spürte ich, dass ich nachdenken und mich eventuell verteidigen müsste.
Die Gobelin-Replik der Guernica in Originalgröße ist immens und beeindruckend in blanken Schwarz-, Weiß- und Grautönen. Ihr Ausdruck von Qual, Schrecken und Verzweiflung ist atemberaubend und brutal. Der gnadenlos ins Auge fallende blaue Vorhang hinter ihr verstärkt diesen Effekt noch. Ethische Fragen tun sich auf. Das Gewicht des kulturellen Kontexts wird spürbar, wenn man das Informationsmaterial hinter der Glasoberfläche des Tisches, die Zeitung, den Film und die Objekte im Raum betrachtet. Ein lose miteinander verwobenes Netzwerk von menschlichem Handeln und Ideologien, die einerseits äußerst beschämend sind, andererseits eine aktuelle Herausforderung an uns darstellen. Macuga lässt nicht nur den großen Moment in der Geschichte der Whitechapel Gallery wieder aufleben, als Picassos Meisterwerk ausgestellt wurde, sondern deutet auch auf ein jüngeres Geschehnis im politischen Abenteuer des Kunstwerks hin: Die von Picasso in Zusammenarbeit mit einer französischen Manufaktur geschaffene Tapisserie wurde 1985 von Nelson Rockefeller gestiftet und im UN-Hauptquartier in New York aufgehängt. Dort gilt sie seither als ständiges Warnsignal gegen erbarmungslose militärische Übergriffe, erinnert an die Schrecken des Krieges und dient als Hintergrund für wichtige UNO-Reden. Als Colin Powell 2003 seine Rede vor dem UN-Sicherheitsrat hielt, mit der er den Rückhalt der Vereinten Nationen für einen Präventivschlag gegen den Irak erlangen wollte, wurde die Tapisserie bezeichnenderweise mit einem blauen Vorhang bedeckt. Macuga hat die Tapisserie vor einem schweren hellblauen Vorhang angebracht. Sie stellt auch eine vollständige Transkription der wortgewandten Rede bereit, die meisterhaft die vermeintlichen Beweise für den Krieg vorbringt, die einst von einem nicht beweiskräftig arbeitenden Geheimdienst ermittelt wurden. Die Tatsache, dass die UNO das Gemälde für diese schicksalhafte Rede verhüllt hat, zeigt uns, dass sie sich bewusst von der Abscheulichkeit militärischer Angriffe abwendet. Gleichzeitig verdeutlicht sich hier die Unaufrichtigkeit und Verfänglichkeit von Colin Powells Position.
Macugas Bronzeskulptur des damaligen US-Außenministers stellt seine zentrale Rolle in den politischen Geschehnissen dar und zeigt ihn, wie er einen kleinen Behälter hochhält. Dies ist eine Anspielung auf die vermeintliche Probe von irakischen Anthrax-Erregern, die er vor dem UN-Sicherheitsrat als Untermauerung seines Aufrufs zum Krieg präsentierte. Die Skulptur in unebenem, kubistischem Stil bezieht sich auf Picassos Werk, so Macuga. Auch stellt es Powell dreidimensional, also als echte Person dar und nicht als bloßes Bild. Wir haben genug Raum, so dass man um die Bronze herum laufen kann. Powells Kopf und Schultern sind auf normaler Augenhöhe, so dass er als jemand erscheint, dem wir in einer alltäglichen Situation begegnen könnten. Doch ist dies eine reglose Figur, der Arm erhoben zu einer stillstehenden Zurschaustellung des vermeintlichen Beweises, das Gesicht erstarrt zu einer leblosen Grimasse. Wir können das Werk von allen Seiten betrachten, doch was die Statue nicht zeigt, ist Powells Inneres, seine Gefühle, sein Glaube oder seine Beweggründe in Bezug auf die Sache. Was wir spüren sollen, ist unser eigener Standpunkt in Hinblick auf diesen Mann und die Geschehnisse. Der Kubismus zeigt die Vielschichtigkeit der Dinge. Er hebt die Rolle des Betrachters beim Interpretieren, Aufnehmen und Erschaffen eines Objekts oder einer Figur hervor. Und so sehen wir auch Powell in dieser Skulptur, die uns an unsere Bereitschaft erinnert, die Rede und die vorsätzliche Entscheidung für den Krieg zu akzeptieren und zu befürworten.
Der hervorragende Film wird auf der Wand gegenüber der Bronzestatue gezeigt. Er liefert weitere Informationen zu der ehemaligen Ausstellung in der Whitechapel Gallery, die 1939 zugunsten der spanischen Republikaner während des Bürgerkriegs organisiert wurde. Er klärt über persönliche Beweggründe, Manipulation, Engagement und die Entscheidung zur Gewalt auf. Es handelt sich um einen ursprünglich französischen Dokumentarfilm mit englischer Synchronisation, der die Geschichte des Spanischen Bürgerkriegs verständlich darstellt. Der Film ist vollständig aus Originalmaterial zusammengeschnitten und bietet ein informatives Voiceover, das alle wichtigen Persönlichkeiten und ihre Politiken auf beiden Seiten der Auseinandersetzung beschreibt. Er stellt die Geschichte des Kriegs sehr zugänglich und ungewöhnlich menschlich dar, wobei er die involvierten Personen sorgfältig beleuchtet. Er zeigt uns, wie sich die mächtigen Persönlichkeiten kleiden, bewegen und wie sie sprechen. Aber wir sehen auch normale Menschen, die unter den grauenhaften Vorgängen und Auswirkungen des Krieges zu leiden hatten. Der Film stellt ungewöhnlich wirkungsvoll dar, wie es sein könnte, Teil eines Krieges zu sein – etwas, das ich glücklicherweise nicht erlebt habe, was andere aber erleben mussten und noch immer müssen – jetzt und heute – einige von ihnen ganz in unserer Nähe. Bilder von Tod und Gewalt sehen wir ständig. Doch sind wir es gewohnt, sie flüchtig zu betrachten und dabei ihre knappen Untertitel zu lesen, so dass sie keinerlei Wirkung auf uns haben. Der Film ist ein alarmierendes Gegenstück zu dieser Art des Informationskonsums. Er gibt die Gelegenheit, die Details und Beweggründe des Kriegs ganz nah zu spüren und zu lernen: ein Krieg, der aus dem sich verschärfenden Machtkampf zwischen den zwei vorherrschenden Mächten entstand, die Europa während des vergangenen Jahrhunderts kontrollierten. Spanien wurde zu einem tragischen Mikrokosmos der Verbitterung zwischen Faschismus und Kommunismus, zwischen Rechts und Links, zwischen den Privilegierten und den Unterprivilegierten.
In ihrem Interview spricht Macuga über das Interesse an der Verwendung von Symbolen in der Kultur und die bedeutende Rolle, die sie in ihrer Arbeit spielen. Neben den geschichtlichen Fakten wird in dem Film die Bedeutung von Symbolen deutlich. Die Macht und die potentielle Abscheulichkeit der Symbole (durch ihre geschmacklose, übertriebene Verwendung) werden in dem Material erkennbar, das die Motive und Zeichen zeigt, die auf beiden Seiten verwendet wurden – angefangen bei der Armee bis hin zu ihren Anhängern. Wir sehen, wie der Faschismus aus dem Nationalismus entstand, unterstützt von Grundbesitzern, der Burgeoisie, der wohlhabenden Kirche und von jenen, die Geschmack an der großen imperialen Vergangenheit Spaniens finden konnten. Wir werden Zeuge, wie die Massen in traditionellen spanischen Kostümen zur Unterstützung ihrer Führer eilten. Die Straßen sind gefüllt mit Frauen, die den traditionellen schwarzen Kopfschmuck und lange, lagige Röcke tragen, während die Soldaten von Francos berittener Garde – als derbstes Beispiel ideologischer Markierung – Turbane, Umhänge und Speere tragen, eine Anspielung auf die alten Armeen, die die Mauren im Mittelalter aus dem Süden Spaniens vertrieben haben. Die Republikaner hingegen sind gewöhnlich und zeitgenössisch gekleidet – ihre Soldaten kämpfen in knielangen Hosen und weißen, kurzärmeligen Hemden. Während die Faschisten in Reih und Glied, mit straffem Blick, gestreckten Händen und Füßen in die Ferne deutend den Nazigruß ausführen, marschieren die Kommunisten mit kleinen Schritten, gebeugtem Arm und manchmal mit einer schwenkenden Faust. Die Unterschiede in Gangart und Gestik deuten auf unterschiedliche Denkansätze hin. Die Linken bewahren ihre Energie dicht an ihrem Körper. Anstatt nach einem entfernten Ideal zu greifen, sind sie überzeugt von sich selbst und der Leidenschaft und Macht, die sie in sich tragen.
Die andauernde Beziehung zwischen Kunst und Politik ist ein beständiges Thema der Installation. Die Guernica war bereits immer politisch. Das Bild wurde von der spanischen Regierung ursprünglich für den Spanischen Pavillon der Weltausstellung 1937 in Paris in Auftrag gegeben und galt insbesondere als Protest gegen die Zerstörung der baskischen Stadt durch deutsche und italienische Bomber auf Francos Geheiß. (Der Überfall war Hitlers erste Umsetzung seiner Vorstellung einer gnadenlosen Zerstörung, die er als „Totalen Krieg“ bezeichnete. Dass er ohne Warnung auf wehrlose Zivilisten abzielte, zeugt von seiner beispiellosen Brutalität.) Die Guernica war auch ein Geschenk Picassos an das spanische Volk, das er ihm unter der Bedingung überließ, dass es erst nach Spanien zurückkehren würde (aus dem MOMA in New York, wo es als langjährige Leihgabe ausgestellt wurde), wenn das Land eine demokratisch gewählte Regierung hätte. Wie Macuga mit Archivmaterial zeigt, wurde das Bild wiederholt als Protest gegen die Schrecken des Kriegs verwendet, unter anderem gegen die Kriege in Vietnam und Irak.
In ihrer Installation zeigt Macuga auch Fotos von der Weltausstellung 1937 in Paris, auf denen zu sehen ist, wie andere Nationen das Ereignis nutzten, um politische Statements abzugeben. Die Installation macht deutlich, inwiefern die gewählte Ästhetik automatisch Ausdruck der politischen und kulturellen Einstellung der Nation ist. Der Deutsche Pavillon war dramatische Darstellung von Nazimacht und Prahlerei – ein klassisches Bauwerk, auf dem ein enormes Hakenkreuz und ein Adler mit ausgebreiteten Schwingen prangten. In ihm gab es einen schillernden, mit Kronleuchtern ausgestatteten Festsaal. Der Film zeigt, wie sich gewöhnliche Menschen dort einfinden, was eindrucksvoll an eine Szene in einem eleganten Hotel erinnert. In dem Sowjetischen Pavillon standen riesige Statuen von kommunistischen Kleinbauern, die mit hoch erhobenem Hammer und Sichel der Zukunft entgegen schreiten. Ein Foto des Irakischen Pavillons von 1937 zeugt von eher schlichter Eleganz, mit hohem, schattigem Kreuzgang, der um einen stillen Brunnen mit Blumenarrangements und sanft spielenden Fontänen führt, wobei die Moderne nur auf sehr subtile Weise in dem relativen begrenzten Design erscheint. Einen dramatischen Kontrast hierzu bot der Spanische Pavillon, der ein offener, luftiger und absolut moderner Raum aus glattem Beton und Glas war. Als Beispiel modernen Minimalismus erwartete den Besucher hier nur die Guernica an einer Wand, ein flacher, runder Springbrunnen von Alexander Calder und eine Reihe surrealistischer Filme mit Anti-Kriegs-Botschaften von Luis Buñuel, John Ivens und Ernest Hemingway. (Macuga gibt an, dass das Layout des Spanischen Pavillons die Anordnung ihrer Installation beeinflusst hat.)
Doch wieder zurück ins Londoner East End – ein weiteres, packendes Zusammentreffen von Ästhetik und Politik stellt das Dokumentationsmaterial dar, das in einer Reihe von nichtkommerziellen Workshops entstand, die in den 1930er Jahren von dem Gewerkschaftler und Mitglied der Communist Party Norman King organisiert wurden. Kings Watney Street Propaganda Art Course bot Mitgliedern linker Gruppierungen einen Lehrgang für die Erstellung von visueller Propaganda, wie Transparente, „Tableaux“ (oder große 3D-Statuen) und Flugblätter, an, mit denen sie ihr Anliegen verbreiten konnten. Es existieren Fotos und Flugschriften aus diesem Kurs und sogar ein zeitgenössischer Zeitungsartikel, in dem die Qualität der von den durchweg amateurhaften Künstlern geschaffenen Werke gelobt wird. Auch Norman King selbst hat eine Reihe von Werken geschaffen, darunter eine ansprechende Collage von Fäusten aus Pappe, die einen Kreis bilden. Dieses Bild steht auf der Titelseite von Macugas Zeitung – in Rot gedruckt, was vielleicht etwas zu weit geht. Als Polin kann Macuga auf eigene Erfahrungen mit dem institutionalisierten Kommunismus zurückblicken. Doch spricht sie in den höchsten Tönen von Kings Bemühungen, Graswurzelinitiativen zu bilden und dazu zu bringen, gemeinsam kreativ zu werden und sich für ihre politischen Überzeugungen einzusetzen. Sie sagt, dass das Material aus seinen Kursen „eine kraftvolle Stimmung im Londoner East End aufgebracht hat, und dies zu einer Zeit, als politisches Engagement bedeutsam war“.
Als Teil dieser Bewegung und ganz im Einklang mit dem historischen Versuch der Whitechapel Gallery, zeitgenössische Kunst zu den Armen und Bedürftigen zu bringen, wurde die Ausstellung der Guernica 1939 gemeinsam mit dem Stepney Trades Council mit dem Ziel organisiert, Spenden zu sammeln. Davon sollte hungerleidenden republikanischen Soldaten und ihren Familien in Spanien ein Schiff mit Essen und anderen Hilfsgütern geschickt werden. Die Besucher der Galerie wurden gebeten, ein Paar Schuhe zu spenden; einige Männer meldeten sich nach dem Ausstellungsbesuch sogar als Freiwillige, um zu kämpfen. In einem Brief ist zu lesen, dass 1953 eine zweite vorgeschlagene Ausstellung des Gemäldes aus Angst davor, sie könnte eine Welle von kommunistischen Aktionen rund um die Galerie auslösen, abgelehnt wurde. 1953 sah das britische Establishment die organisierte Linke mit anderen Augen als noch im Jahr 1939.
Macugas Einladung für Versammlungen in dem Ausstellungsraum schließlich zeugt von der Vorstellung gemeinschaftlicher Aktivitäten. Sie erklärt: „Sowohl in der Whitechapel Gallery 1939 als auch im UN-Gebäude diente die Guernica als Kulisse für Diskussionen – ich hoffe, dass sie hier denselben Zweck erfüllen kann. Londons East End war berühmt für seinen Gemeinschaftsgeist, aber es hat in der letzten Zeit unter der Ausdehnung der Stadt und großen Veränderungen an der Infrastruktur gelitten … Es scheint, dass der Individualismus an Bedeutung gewinnt. Gehören die Gemeinschaftsprojekte endgültig der Vergangenheit an?“ Übereinstimmend mit der Überzeugung vieler Künstler fügt sie hinzu: „Hoffentlich wird die momentane Wirtschaftskrise dazu führen, dass Graswurzelaktivitäten angeregt, der Ideenaustausch gesteigert und der Aufbau von kollektiven Unterstützungsnetzwerken gefördert werden.“ Sie betont, dass sie ganz besonders darauf baut, dass die Dokumente und Informationen von Norman King eine „Neue Generation von engagierten Enthusiasten“ ermuntern wird.
Die Installation ist ein bemerkenswerter Austragungsort für Versammlungen – mit einer Vielzahl von erstaunlichem und potentiell ablenkendem, oder inspirierendem, textlichem und visuellem Informationsmaterial unter der Glasoberfläche des Tisches (originale Briefe an Picasso, kodierte Texte von Anarchisten), ganz zu schweigen von den Besuchern, die in dem Raum herumlaufen. Doch all dies soll uns daran erinnern, dass wir niemals allein sind. Wir sind niemals frei von Geschichte, von Kontext, Interpretation und den Bestrebungen anderer – seien sie positiver oder negativer Art. Entscheidend ist, worauf wir mit unseren eigenen Bestrebungen abzielen. Einige Treffen wurden bereits angemeldet und abgehalten, und zwar vollständig öffentlich, vor den Besuchern. Es kommen die verschiedensten Gruppen – Lehrer, Mitarbeiter der Gemeinde, Künstler, Kuratoren, Schüler und viele weitere. Viele Treffen stehen im Zusammenhang mit Kunst oder Krieg. Sie verfolgen oft einen Lehrgedanken oder bemühen sich um die Organisation kommunaler Events. Auch beherbergt der Raum einige wöchentliche Treffen. Folgende Veranstaltungen haben bereits stattgefunden: eine erneute Zusammenkunft verschiedener Gruppen der Initiative „G20 Meltdown“, desweiteren ein Kunstprojekt, in dem englische und Urdu-Muttersprachler sich gegenseitig Elemente ihrer Sprachen beibringen, ein Treffen von einer Schülermitverwaltung, MBA-Seminare, ein Buchklub, Kuratorentreffen zu zukünftigen Kunst- und Medienevents. Demnächst finden eine Diskussion über die Rolle des „Durchschnittsbürgers“ in unserer jetzigen Gesellschaft, ein Workshop zum Thema „Negative Erfahrungen zu positiven Ergebnissen machen“ und eine Lesung mit Diskussion zum Irakkrieg statt. Da der Raum kostenlos zur Verfügung gestellt wird, werden die Gruppen nur um etwas Dokumentationsmaterial (Protokolle, Fotos, Audiomitschnitte etc.) für das Archiv der Galerie gebeten.
Die Elemente der Installation sind vielfältig, doch die Bilder und Ideen sind miteinander verbunden und überschneiden sich immer und immer wieder. Die Zusammenstellung ist sehr voll und doch sehr begrenzt und stimmt nachdenklich. Die Ausstellung als Ganzes soll eine Warnung vor den primitiven Kräften sein, die zu Zerstörung und Gewalt führen und Potential für das Böse haben, das in der menschlichen Natur liegt. Sie erinnert an die mehr oder weniger bedeutsamen moralischen Entscheidungen, die wir im Laufe unseres Lebens immer wieder treffen müssen. Sie zeigt uns, wie leicht wir von eigenen Bedürfnissen und unserer Gier manipuliert, irregeleitet und zu verantwortungslosem Handeln oder Tatenlosigkeit gebracht werden. Die Ausstellung fordert uns heraus, sie gibt uns eine Gelegenheit, sie stellt unsere Fähigkeit in Frage, eigenständig zu denken, zu kommunizieren, zu kooperieren und den Weg des prinzipientreuen Handelns und der Verantwortung zu wählen.


Aus dem Englischen von Julia Kliem-Gesteira.




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