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Einfach so...
Zeitschrift Umělec
Jahrgang 2009, 1
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Einfach so...

Zeitschrift Umělec 2009/1

01.01.2009

Alena Boika | home | en cs de es

Einmal schenkte mir das wunderbare Mädchen Anjuta zum Geburtstag das Buch „Winzige Buchstaben“ (Verse German Lukomnikov, Illustrationen Asja Flitman, 2001). Es war nicht sehr groß, aber die Zeichnungen und Wörter füllten es so dicht, dass kein Platz für irgendeine Art von Leere oder Zweifel blieb. Das Buch war so ungewöhnlich für unsere Minsker Breitengrade, dass ich Anjuta fragte, wo sie denn dieses Wunder gefunden habe. In Moskau. Die „Winzigen Buchstaben“ nahmen ihren Platz auf meinem Tisch ein, ich wollte sie wegen ihres besonderen künstlerischen Wertes nicht im Rucksack mit mir herumtragen.
Einige Jahre später, als ich schon in Prag in völliger Unbestimmtheit lebte, klagte ich im LiveJournal darüber, dass ich meine Bücher vermisse, die ich in Belarus zurückgelassen hatte, besonders die liebsten und lebendigsten, wie die „Winzigen Buchstaben“. Darauf antwortete mir Asja Flitman und schlug vor, wenn ich in Moskau bin, doch einmal bei ihr vorbeizukommen und mir bei ihr die „Winzigen Buchstaben“ abzuholen. Zusammen mit der Einladung erhielt ich einen detaillierten Plan, wie ich dorthin gelangen würde, den ich immer wieder las, wenn ich ein bisschen Wärme brauchte.
Beschrieben waren die beeindruckend schöne Feuerwarte, die lange gelbe Mauer des Krankenhauses, die kleinen Wege, das Fenster, wo ich rufen oder einen Schneeball werfen sollte. Die Welt ringsum, so schien es, war angefüllt mit den Figuren ihrer Arbeiten – Krähen, Hunden, Vögeln, Katzen. Was ist denn daran so verwunderlich, werden Sie sagen, die Welt ist auch so voll von alledem – wie viele Katzen, Hunde und andere unnütze Kreaturen streunen denn überall herum. Verwunderlich war, dass sie alle plötzlich sprechen konnten – wie in der Kindheit. Die Welt ringsum verlor ihre scharfen Konturen und harten Kanten und wurde ein bisschen verwaschen, warm, angenehm verträumt, gedankenverloren und froh.
Asja wohnt in einer winzig kleinen Moskauer Wohnung, von oben bis unten voller Bilder, weshalb sie wie in den „Winzigen Buchstaben“ viel größer erscheint als sie eigentlich ist, so dicht ist der Raum gefüllt. Aus ihrem Fenster kann sie die lange gelbe Mauer des Krankenhauses sehen, die in vielen ihrer Arbeiten auftaucht. Vom Himmel ist nicht sehr viel zu sehen, deshalb sucht sie ihn und es gibt viel Himmel auf ihren Bildern. Die Menschen sehen sehr oft in den Himmel – die Geisteskranken beim Spaziergang (diejenigen, die hinter der gelben Mauer des Krankenhauses wohnen), Salut: Menschen in weißen Kitteln legen den Kopf in den Nacken – sie wohnen auch hinter der gelben Mauer des Krankenhauses und unterscheiden sich nicht allzu sehr von den Geisteskranken, jedenfalls verbindet sie ein menschliches Verlangen, in den Himmel zu sehen und die Krähen zu zählen oder sich an einem roten Vogel zu erfreuen. Oder einfach nur zu sehen.
Das Sehen ist Asjas Lieblingsbeschäftigung. Jedenfalls scheint mir, dass das Zeichnen mit der Neugier kommt, ein nochmaliges Sehen ist.
Asja erzählt: ...ich wurde in letzter Zeit öfter gefragt, wie ich angefangen habe zu zeichnen. Ich habe nachgedacht...
Soweit ich mich erinnere, habe ich immer gezeichnet, das heißt zuerst so wie alle Kinder, und dann, so ungefähr mit 14, habe ich einmal gesehen, wie im Badezimmer ein Handtuch an einem Nagel hängt – so ein Kegel, nun das kennen alle. Ich habe das gesehen und begriffen, wie das zu zeichnen ist, also habe ich mich hingesetzt und das gezeichnet. Danach habe ich angefangen, in der Umgebung verschiedene Linien wahrzunehmen, habe versucht, sie abzubilden. Linien haben mich besonders interessiert. Außerdem Bewegungen, die verborgenen Bewegungen des Körpers, die Plastik. Ich selbst war sehr unbeweglich und ungelenk, aber ich habe die Bewegungen gesehen und innerlich gespürt und ich habe versucht, sie abzubilden. Ich war auf einer mathematischen Schule, war eine schlechte Schülerin, das, was man versuchte, uns beizubringen, interessierte mich überhaupt nicht. Ich konnte meine Aufmerksamkeit nicht auf das lenken, was verlangt wurde. Überhaupt ist mir nicht klar, wie man jemanden etwas lehren kann. Jeder lebt doch nach seinen eigenen inneren Gesetzen. Ich kann mich gut erinnern, wie wir einmal eine Vorlesung hatten (Mathematik wahrscheinlich). Sie fand nicht in der Schule statt, sondern im Pionierpalast in der Nähe. Dort fanden manchmal Vorlesungen statt, wenn irgendein besonders wertvoller Dozent vortrug und möglichst viele Kinder untergebracht werden mussten. Der Hörsaal dort war größer als unsere Klassenräume oder der Theatersaal. Also war es offensichtlich ein überaus kluger Dozent und offensichtlich trug er etwas sehr Wichtiges und Interessantes vor. Aber ich konnte überhaupt nicht zuhören, ich kann mich nicht erinnern, worum es da ging, wer neben mir saß. Aber ich kann mich sehr gut erinnern, dass es in mir intensiv arbeitete. Ich zeichnete (anstatt zuzuhören und Notizen zu machen), zeichnete Figuren, mit denen ich etwas ausdrücken wollte, genauer gesagt hatte ich ein Gefühl, das ich plastisch ausdrücken wollte, mit einer recht lakonischen Figur ausdrücken wollte, ohne Details, mit einer Figur wie einem Hieroglyphen, so, dass alles in ihrer Haltung sichtbar sein würde. Ich zeichnete einige Varianten und kam nach und nach zu dieser:
Ich kann mich sehr gut an diesen intensiven inneren Prozess erinnern, mich erinnern, wie diese Haltung entstand. Dass sie sowohl Anspannung als auch Verzweiflung, Flehen, Demut und Hoffnung ausdrücken sollte. Nebenbei bemerkt wusste ich damals noch nicht, dass es so eine Gebetshaltung gibt, dass sie Proskynese heißt, oder Verbeugung bis zur Erde. Aber diese Figur drückte mein inneres Gefühl am besten aus. Und ich war schrecklich froh, als sie mir endlich gelungen war. Ich bewahrte dieses Blatt aus dem Heft auf. Mein Gott, war ich eine schlechte Schülerin! Ja und was hätte man mir denn auch beibringen können, wenn in mir die ganze Zeit etwas passierte, das gar nichts mit dem Unterricht zu tun hatte?
Wie das äußere Leben mit dem inneren zusammenhängt
– das ist es, was Asja am meisten interessiert. Auf der Beobachtung dieser Wechselbeziehung und dem Versuch, sie in ihren Zeichnungen abzubilden, basieren ihre Welt und ihr tagtägliches Leben. In ihr vereinen sich auf wundersame Weise kindliches Erstaunen und die Weisheit der Alten, die, da bin ich ganz ihrer Meinung, die wunderbarsten Menschen auf der Welt sind. Asja sammelt Fotos von ihnen, schneidet sie aus alten Zeitschriften aus und klebt sie in ein Album. In jedem Zug dieser Gesichter erkenne ich ihre eigene Weisheit, Güte und Aufrichtigkeit.
Asja würde keinen der Versuche meines hohen und unpersönlichen Stils gutheißen. Über sie würde ich ungefähr so schreiben:Düsteres Moskau. Ein schwerer grauer Himmel. Es sieht so aus, als ob es gar nicht Tag werden würde und die ganze Zeit fällt ein feiner Nieselregen. Es ist kalt. Nasse Vögel schmiegen sich auf den Häusersimsen aneinander. In Asjas Wohnung ist es warm. Alles nicht sehr groß. Aber weil von allem so viel da ist – Bilder, Farben, Gesichter ringsum – dehnt sich der Raum aus, und alles findet seinen Platz. An der Tür bekommst du Hausschuhe, dann Tee. Tee mit Kräuterchen, Käse mit kleinen Löchern, alles schmeckt so gut. Im Badezimmer wohnt eine Pflanze, für sie brennt dort das Licht. Die Tür geht einen Spalt breit auf, es erscheint der schwarze Strubbelkopf von German (Lukomnikov, alias Bonifazij, ein bekannter Moskauer Lyriker). Der Kopf fragt in klagendem Tonfall: „Asja, kann ich noch Suppe haben?“ Asja sagt, dass er natürlich noch welche haben kann, nur die Frikadellen müssen fürs Mittagessen und fürs Abendbrot reichen.
Wenn ich an Asja denke, fallen mir immer die Worte von Sascha Sokolov ein, der schrieb, dass „wir Russen eine Literaturnation sind“. Bei Asja zu Hause scheint alles Literatur zu sein und sie selbst ein leuchtender Vertreter der echten Intelligenzija, ohne Überspanntheit und hochmütigen Stolz, ohne den selbstmitleidigen Komplex „einer Intellektuellen am Küchenherd“, mit einer Weisheit und Aufrichtigkeit, die man niemandem künstlich anerziehen kann.
Asja kann wunderbar Geschichten erzählen. Als ein Mensch, der in allem etwas Ungewöhnliches entdecken kann, findet sie in den einfachsten und gewöhnlichsten Dingen immer etwas, was andere nicht sehen. Die meisten ihrer Geschichten beginnen so: „Einmal ...“ Zum Beispiel einmal, als Asja an der Metro im Auto auf mich warten musste, weil ich viel zu spät kam, beobachtete sie die Leute, die aus der Metro kamen, die ganzen Beine, die vorbeikamen. Ich fing an mich zu entschuldigen, aber Asja sagte gleich, dass sie die Zeit sehr schön verbracht habe und später malte sie das Bild „An der Metro oder 23 Beine“.
Alle ihre Arbeiten sind Literatur. Sie können alle als Geschichten gelesen werden. Asja malt sie auch mit der Zeit, wie Heiligenviten, in denen sich die Erzählung Fenster für Fenster aufbaut. Sie selbst vergleicht ihre Bilder eher mit Lehrbüchern, wo klar zu sehen ist, dass das da eine Melone ist und das da ein Mensch, der es nicht eilig hat. Eine dieser Arbeiten ist das Bild zu einem Gedicht von Andrej Monastyrskij.

Von der Metro-Station Sokolniki aus
kann man entweder zu Fuß gehen (7-10 Minuten)
(die gelben Pfeile)
oder ein paar Stationen mit dem Trolleybus fahren
(14, 41, 32)

(die orangefarbenen Pfeile)
in den Trolleybus steigt man bei der beeindruckend schönen Feuerwarte
dann kommt die Haltestelle „D.K. Rusakov“ - ein Denkmal des Konstruktivismus
dann die Haltestelle „Korolenkostraße“
dort aussteigen und 50 Schritte zurück bis zum Übergang (ein Übergang ohne Ampel und daher nicht für Nervenschwache)
Nervenschwache können 20 Schritte in die andere Richtung gehen – dort ist ein Übergang mit Ampel
und dann schon auf der anderen Seite zurück gehen
von der großen Straße, auf der die Busse, Trolleybusse und Straßenbahnen fahren und die „Stromynka“ heißt
geht die Gasse „Kleine Ostroumovskaja“ ab
die muss man bis zum Ende gehen
das sind so ungefähr 200 Schritte glaube ich
auf der linken Seite ist die gelbe Mauer eines Krankenhauses
zusammen mit der Mauer muss man nach links abbiegen und dann kommt nach 50-70 Schritten mein Haus – ein rötlicher Backsteinbau mit 6 oder 7 Etagen
das Haus Nummer 13 in der Straße „Große Ostroumovskaja“
ich wohne im Erdgeschoss in der Wohnung Nummer 20
aber ich habe keine Gegensprechanlage
deshalb muss man zuerst rufen
(falls mein Telefon nicht eingeschaltet ist)
(falls mein Telefon eingeschaltet ist, kann man vom Hauseingang aus anrufen ich komme raus und mache auf)
mein Fenster ist im Erdgeschoss
genau in der Mitte des Hauses
am ganzen Haus entlang führt ein spärlicher Grünstreifen
den kreuzt in der Mitte ein asphaltierter Fußweg
der direkt unter mein Fenster führt
dort muss man rankommen und „Asja“ rufen
oder einen Schneeball werfen wenn Winter ist
oder mit einem Stöckchen klopfen
wenn das Fenster offen ist
wenn es nicht sehr kalt ist
dann braucht man auch nicht zu rufen sondern einfach nur deutlich zu sprechen
- das höre ich
dann sehe ich aus dem Fenster und winke
danach kommt ihr um das Haus herum,
in den mittleren Eingang
und kommt zu mir zu Besuch :)

am besten nicht so früh am Morgen
am besten nach 2-3 Uhr nachmittags

http://npocmo-mak.livejournal.com/2007/01/04/

1.

Auf der Straße läuft ein Junge.
In der Hand hält er eine Kerze.
Vor ihm hüpft ein Rad.
Auf dem Rad ist ein Pferd.

2.

Auf einer Bank sitzen Kinder.
Eins hat auf dem Kopf
Ein Boot.
Aus dem Boot ragt eine Flagge.
In der Nähe wächst eine Tanne.

3.

Im Boden steckt ein kleiner
Pfahl.
Auf dem Pfahl steht eine alte Frau
Auf einem Bein.
In der Hand hält sie eine Flagge.
Daneben, am Boden,
Liegt ein Vogel auf dem Rücken,
Mit langem Schnabel,
Mit aufgeblähtem Wanst.

4.

Übers Feld fährt eine Lokomotive.
Vor ihr hüpft ein Rad.
Auf dem Rad sitzt ein Vogel.
An der Lokomotive ist eine
Schnur festgemacht.
An der Schnur ist ein Glöckchen.
Das Glöckchen fest hält ein Fisch.

5.

Aus dem Feld wächst eine Flagge.
Daneben liegt ein Tausenfüßler
Auf dem Rücken.
Ein Junge rennt zu ihm hin.
In der Hand hält er ein Messer,
auf dem Kopf hat er ein Rädchen.

6.

Auf dem Hügel sitzt ein Vogel.
Er hat eine Schnur umgebunden.
An der Schnur hängt ein Boot.
Im Boot steht eine alte Frau,
In der Hand hält sie eine Flagge.
7.

Aus dem Boden wächst ein Zeiger.
Am Zeiger ist eine Schnur angebunden,
An der Schnur ein Junge.
Auf dem Kopf hat er ein Schiff.
In der Hand eine Flagge.
Neben dem Jungen liegt ein Vogel
Auf dem Rücken am Boden.

8.

Da steht ein kleiner Mann
Mit einem großen Besen.
Daneben eine riesige Ratte.
Aus ihr wächst eine lange
Flagge heraus.

9.

Auf dem Feld steht ein Heuhaufen.
Ein Junge rutscht darauf herunter.
Daneben steht eine Bank.
Darauf liegt ein Tausendfüßler
Auf dem Rücken.
Aus ihm ragt eine Flagge.

10.

Auf dem Hügel steht ein Mädchen,
Neben dem Hügel steht ein Junge,
Er hat einen Bauklotz in der Hand.
Er zeigt ihn dem Mädchen.
Hinter seinem Rücken wächst
Ein dicker Zeiger aus dem Boden.

11.

Auf einem Hügel
Steht ein Schiff.
Neben dem Hügel
Ein bisschen größer als das Schiff,
steht ein Mädchen.
Sie hält ein Messer in der Hand.
Am Segel des Schiffs ist
Ein Zeiger angebracht.
Am Ende des Zeigers ist eine
Schnur festgebunden.
An der Schnur
Ein Pferd mit Fuhrwerk.
Aus ihm ragt eine Flagge.

Die Geschichten handeln immer von realen Menschen, aber wenn sie sie in Worten und Bildern erzählt, ist das Schöne Literatur in vollstem Sinne.
Die Milizionäre und Till _ Wahrhaftige Geschichten:

5. Einmal wurde Till aufs Revier geführt.
Unterwegs bat Till um den Dienstausweis des Milizionärs und addierte laut die Ziffern seiner Dienstnummer. Als er damit fertig war, gab er den Ausweis zurück und verkündete fröhlich:
- Die Summe der Ziffern auf Ihrem Dienstausweis ist gleich 19.
- Der Milizionär wurde nachdenklich. Als sie auf dem Revier ankamen, schloss er die Tür auf, goss Tee ein, legte den Mantel ab und fragte aufgeregt:
- Und was bedeutet das?
- Die Ziffern der Dienstnummer eines Milizionärs zeugen nach den alten Büchern vom Schicksal und Charakter des Milizionärs, - erläuterte Till.
- Und was ist das für ein Glaube, erzähl, - bat der Milizionär.
- Das ist der Glaube an die Zahlen. An die Harmonie höherer Sphären. An die Musik. Sein Prophet ist Pythagoras, ein alter Grieche. Auf der Welt verläuft alles gesetzmäßig, in Harmonie, Ordnung und Barmherzigkeit, selbst die Teeblättchen im Tee unterliegen einem Gesetz. Alles hat eine Zahl, die ihm seinen Platz in der Welt und in der Musik zuweist und in Beziehung zu anderen Noten, Zahlen und Geschöpfen tritt.
- Und was bedeutet meine Nummer?
- Sie sind ein guter Mensch. Zu Hause haben Sie einen großen Hund. Sie lieben die Ordnung. Sie bräuchten eine Wohnung und Geld. Diese Arbeit gefällt Ihnen nicht besonders. Musik lieben Sie mehr. Sie schämen sich, dass Sie manchmal Menschen quälen.
- Das stimmt, - sagte der Milizionär. - Und das steht alles in meiner Dienstnummer?
- Das weiß ich nicht, - sagte Till, - Aber so sagen es die Alten.
Der Milizionär wurde nachdenklich und nahm einen Schluck Tee.
- Vielleicht suche ich mir eine andere Arbeit, - sagte er. - Und du komm mal wieder. Und öffnete Till die Tür.
8. Einmal brachte Till ein Foto für seinen Pass zur Miliz. Er war kahlköpfig, mit Haarbüscheln an den Seiten, mit einem Streichholz im Bart, einer Blume hinter dem Ohr, einem Blumensträußchen in der Hemdtasche, einer Vogelfeder und einer brennenden Kerze in der Hand. Der Fotograf freute sich über dieses Foto. Er klatschte in die Hände und rief: Für den Pass, für den Pass. Kommen Sie mal wieder.
Auf dem Revier wunderten sich alle und sagten:
- Das ist doch ein Kunstfoto und nicht für einen Pass.
Aber sie lachten sehr und erlaubten es.
6. Einmal fand Till das Gestell von einem Kinderwagen. Und fuhr die ganze Nacht lang damit herum. Und schlief auf der Straße ein. Das Gestell stand neben ihm. Am nächsten Morgen öffnete Till die Augen und sah den blauen Himmel und die Vögel, die über ihm flogen und hörte, wie aus allen Fenstern die Wecker rasselten. Über ihn beugten sich drei Schirmmützen.
Die Milizionäre sagten:
- Steh auf, Onkelchen, es brennt.
- Du hast natürlich keine Papiere dabei, - sagte einer von ihnen spöttisch.
- Nein, - sagte Till.
- Und natürlich keine Wohnung.
- Momentan nicht, - sagte Till.
- Und bist natürlich drogensüchtig.
- Nein, ich bin Erfinder.
- Erfinder von was?
- Ich habe das Fragotron erfunden, - sagte Till und strich zärtlich über das Kinderwagengestell.
- Und wie funktioniert das?
- Wenn ein Mensch keine Fragen hat, geht er vorbei, aber wenn er Fragen hat, kommt er auf jeden Fall vorbei und stellt sie. Die Maschine zieht ihn sozusagen an.
- Und wofür braucht man die?
- Leute, er will doch einfach nur sagen, dass wir ihn unnütz ausfragen. Oder?
- Nun ja, - sagte Till.
Die Milizionäre lachten, entschuldigten sich und gingen.
10. Einmal kam ein Milizionär zu Till und sagte:
- Komm, ich nehme dich fest und führe dich aufs Revier.
- Warum denn?
- Es ist zu kalt, um hier Wache zu stehen.
- Na los, - willigte Till ein und sie gingen.
15. Einmal sprang Till auf der Treppe der Metro-Station einfach so von Stufe zu Stufe mit einem schönen Regenschirm in der Hand. Ein Milizionär schlich sich leise von hinten an ihn heran. Aber Till bemerkte ihn trotzdem und begann tanzend mal auf die eine, mal auf die andere Seite zu springen, aber so, dass er seinem Verfolger die ganze Zeit den Rücken zukehrte. Schließlich blieb Till stehen und der Milizionär packte ihn von hinten am Ellenbogen. Eine Zeit lang standen sie so. Schließlich machte der Milizionär eine ruckartige Bewegung, um Till mit dem Gesicht zu sich umzudrehen, aber der machte gleichzeitig genauso eine ruck- artige Bewegung, so dass der Milizionär wieder hinter ihm stand und ihn weiter am Ellenbogen festhielt. Da packte der Milizionär Till an einer Hand und versuchte, ihn irgendwie zu drehen, um endlich die Oberhand zu gewinnen. Till jedoch, den das schmerzte, fing an, sich anmutig wie ein Balletttänzer um den Milizionär herumzubewegen und versuchte gelegentlich sogar, ihn um sich selbst zu drehen, weitaus weniger anmutig. Dabei sah Till den Milizionär nach wie vor nicht an und bewegte entzückt und elegant den Schirm und eine Rose, die er in der freien Hand hielt ... Für Außenstehende mochte es so aussehen, als ob zwei Freunde, die sich verabredet hatten, einen seltsam schönen Tanz aufführten, eine Art Tango in Karnevalskostümen. Ringsum sammelten sich Zuschauer und applaudierten. Die Leute lachten und riefen „Bravo!“ Schließlich drehte der Milizionär dem lieben Till so den Arm um, dass der seinen Schirm fallen ließ und auf dem Bauch landete. Der Milizionär fiel auf Till. Und Till holte Papier und einen Bleistift hervor und zeichnete ein Häuschen, eine Giraffe, die Sonne. Da fragten die Leute: Was ist denn hier los? Der verwirrte Milizionär fing an zu schreien:
- Sehen Sie’s denn nicht, er ist ein Drogensüchtiger!
- Selber Drogensüchtiger, - sagten die Leute.
Da tat der Milizionär vor den Leuten so, als ob er Till festneh- men würde, aber zu ihm sagte er: „Ich heiße Witja“. Beiden wurde froh zumute und gleichzeitig schämten sie sich für die Aktion, sie entschuldigten sich und wünschten einander ein schönes Leben. Till klappte den Schirm zusammen und stieg in die Bahn.

***
Zum Schluss noch eine Geschichte, die ich gern über Asja erzählt hätte, wenn sie sie nicht schon selbst über jemand anderen erzählt hätte.

Über eine Frau, die aus den Bergen herunterkam

einmal sah ich in der Metro eine so wundervolle Großmutter!
ich werde sie viele Jahre lang nicht vergessen können
sie war wunderbar
erstens war sie unglaublich schön
so eine südländische Frau
vielleicht eine Georgierin vielleicht aber auch nicht
sie hatte ein recht längliches Gesicht
aber das Wesentliche waren die Augen und ihr Ausdruck
es gibt schöne Frauen
aber irgendwie ist eine bösartige Schönheit üblicher
und häufiger anzutreffen
diese Großmutter war so voller Güte
und dann war da noch dieses Gefühl dass sie entweder
gerade eben aus den Bergen heruntergekommen
oder aus langer Haft entlassen worden war
ihr Gesicht trug keinerlei Maske
keinerlei Schutzschicht
alle Menschen in der Metro und in der Stadt
sind wie gepanzert hinter einer steinernen Mauer
also - ihr versteht, was ich meine
alle tragen eine Maske der Entfremdung vor dem Gesicht
die Verbindung von dieser völligen Offenheit mit der Schönheit von Sanftmut und Staunen
- das ist unglaublich
vielleicht spielte bei ihrem so ungewöhnlichen Gesichtsausdruck auch die Tatsache eine Rolle
dass ihr Sohn bei ihr war offenbar
schon erwachsen auch ein Südländer
seine Gesichtszüge erinnerten etwas an die seiner Mutter
aber er war ganz und gar gewöhnlich
nicht der Schönste
mit einer Maske der Entfremdung
vielleicht ist sie zum ersten Mal aus ihrem Dorf gekommen
um ihren Sohn zu besuchen der unter die Leute gegangen war
er brachte es tatsächlich fertig auf sie böse zu sein
das war unglaublich
auf ein so sanftes und wahnsinnig schönes Geschöpf kann man nicht böse sein
selbst wenn es deine Mutter ist
aber er brachte es tatsächlich fertig
ich saß ihr gegenüber
konnte die Augen nicht abwenden
ich lächelte ihr zu
wollte sagen
- seien Sie nicht betrübt wegen Ihres Sohnes
und sagte es in Gedanken
was hätte ich sonst tun können?
ich würde sie gern immerzu sehen

***
Asja ist ein Mensch, der in der russischen Tradition als „Gottesmensch“ bezeichnet wird. Vieles von dem, was sie erlebt hat, ihre Erfahrungen, die tiefen Eindrücke und Offenbarungen, kann nur sie selbst beschreiben. Da ich nicht sicher bin, ob all das veröffentlicht werden soll, verweise ich auf die Seiten ihrer Tagebücher (in russischer Sprache).
http://npocmo-mak.livejournal.com,
http://odnajdy.livejournal.com und andere



Aus dem Russischen von Lydia Nagel




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