Zeitschrift Umělec 2011/1 >> Lobotomie ringsherum | Übersicht aller Ausgaben | ||||||||||||
|
|||||||||||||
Lobotomie ringsherumZeitschrift Umělec 2011/101.01.2011 Alena Boika | essay | en cs de |
|||||||||||||
Der Sommer hat begonnen, der Winter ist vorbei, Dank sei der kommunistischen Partei!
Dies sind Zeilen, die einmal populär waren, die jeder sowjetische Bürger, der zumindest ein bisschen Sinn für Humor besaß, auf Anhieb verstand und, ungeachtet der traurigen Ironie dieses lakonischen Gedichts, darüber lächeln konnte. Der Frühling ist vergangen, der Herbst ist gekommen und ich habe wieder diese seltsamen Wesen entdeckt, die im herrschenden Mehrparteiensystem und der Demokratie nicht die Idee irgendeiner Partei sein können – so global und allumfassend ist diese raffinierte Herangehensweise. Zum ersten Mal ist es im Frühling passiert. Als ich auf der Národní třída an dem bekannten ehemaligen Kaufhaus Máj vorbeiging, das zu Ehren des höchsten sozialistischen Feiertags – des Tags der Arbeit am 1. Mai – benannt war, hielt ich plötzlich inne. Nicht, weil Máj kürzlich durch My ersetzt worden ist – was auf Tschechisch „wir“ bedeutet und der Name einer Marke ist, die näher an den Menschen sein möchte – sondern, weil sich mir ungewöhnliche Bilder boten. In einem Schaufenster waren Mannequins nach einer Lobotomie-Operation ausgestellt. Anfangs dachte ich, dass man sie möglicherweise auf diese seltsame Weise repariert oder der Künstler, der sie entwickelt hatte, einen Anfall von Frühlingsschizophrenie erlitten hatte. Doch hier war der Herbst gekommen. Es standen herbstliche Exemplare vor unseren Augen, die dieser Operation unterzogen worden waren. Man kann das natürlich bestreiten und sagen, dass es sich dabei überhaupt nicht um eine Lobotomie, sondern nur um eine künstlerische Trepanation des Schädels handelt, doch an diesem Punkt stimme ich nicht mit Ihnen überein. Eine kurze Erörterung Lobotomie ist die operative Entfernung der Stirnlappen, die für die Selbstwahrnehmung und die Entscheidungsfällung verantwortlich sind. Die Lobotomie wurde 1935 von dem Portugiesen Egas Moniz entwickelt. Diese Prozedur wurde als Mittel zur Heilung in hoffnungslosen Situationen empfohlen, verursachte jedoch einen unumkehrbaren Schaden des Gehirns. Nach einer Lobotomie wurde dem Kranken die lebenslängliche Diagnose des „Lobotomiesyndroms“ (F07 nach ICD-10) diagnostiziert. Nachdem Moniz der Nobelpreis zuerkannt worden war, fing man an, die Lobotomie in größerem Umfang anzuwenden. Der amerikanische Psychiater Walter Jackson Freeman wurde zum führenden Propagandisten dieser Operation. Freeman bekräftigte, dass die Prozedur aus einem „seelisch kranken“ Patienten die emotionale Komponente entfernte. Die ersten Eingriffe wurden mithilfe eines Messers zum Zerkleinern von Eis durchgeführt. Anfang der 50er Jahre führte man in den USA jährlich ungefähr 5 000 Lobotomien durch. Der Eingriff wurde aus ethischen Gründen stark kritisiert, denn das Ergebnis der Operation waren verkrüppelte Menschen mit geschädigtem Gehirn. Deshalb fiel die Zahl der Lobotomien Mitte der 50er Jahre wieder stark ab. In der UdSSR wurde die Lobotomie offiziell 1950 verboten. Es ist nicht gelungen, Daten über eine massenweise Durchführung dieser Operation in anderen Ländern zu finden. Nach Michal Wimmer, einem in der Tschechischen Republik tätigen Psychiater, werden Informationen über die Durchführung von Lobotomien in diesem Land nicht veröffentlicht. Wie im Kino Im niederländischen Film Der Illusionist von Jos Stelling aus dem Jahr 1983 beobachten wir die dramatische Entwicklung einer Familiengeschichte. Er zeigt, wie zwei romantische junge Männer, die weder zur Klasse der Arbeiter noch der freien Bauern gehören – die man einst irrtümlicherweise die Säulen der Zivilisation nannte (was möglicherweise nicht ganz falsch ist, Triebkräfte der Zivilisation waren sie jedoch nicht) –, versuchen, die Welt zu ändern, indem sie einfach so leben, wie es ihnen gefällt und interessant für sie ist. Das beinhaltet auch das Sammeln von Fliegen, selbst wenn dies irgendjemandem seltsam erscheinen mag. Oder den Zyniker, der verächtlich Grimassen zieht, als er ihre wunderbare Erfindung des Sehr Orangefarbenen Flugzeugs erblickt, das in poetischem Überschwang aus einem Fahrrad entstanden ist. Sie lieben intensive Farben, Tricks, weiße Mäuse, einfache Wunder, die sie selbst veranstalten. Sie haben keine Angst, lächerlich zu wirken, und denken nicht an die dummen Spatzen in der Hand. Sie träumen, sind frei und voller Begeisterung. Der ältere der beiden hat ab und zu Anfälle von Hass-Liebe, bis die Gesellschaft entscheidet, dass er gefährlich ist (womit sie recht hat) und dass man sich von der Liebe lieber etwas weiter entfernt halten sollte, damit sie keine Inspirationen und sonstige Kataklysmen verursacht. Rasch wird er in eine Klinik eingewiesen, wo sich Patienten mit einer Narbe auf der Stirn friedlich Theaterstücke ansehen und Karotten essen. Nach einem weiteren Anfall wird der ältere Bruder einer effektiven Lobotomie unterzogen, woraufhin er sich in ein friedliches Wesen ohne jede Aggression verwandelt, bis zu dem Moment des „Zusammenstoßes mit der Brille“ und dem Sehen. Hier sollte man hinzufügen, dass beide Brüder Brillen mit dicken Gläsern tragen, die sie mitunter verlieren, zerschlagen oder sich gegenseitig wegnehmen. Darauf baut einer der vielzähligen Handlungsstränge des Films auf: Sie als diejenigen, die das andere sehen, besitzen das Privileg, die Welt durch dieses (angeblich) optische Hilfsmittel zu erkennen. Dieser Mangel zwingt sie, Details zu sehen, die anderen nicht zugänglich sind. Deshalb können sie verzauberte Insekten und Menschen beobachten – übrigens ohne zwischen ihnen einen großen Unterschied zu machen. Mit Ausnahme ihres Vaters, der auch eine Brille trägt, besitzen die anderen Helden des Films keine ähnlichen Privilegien. Der Grundgedanke des Verlusts oder der Beschädigung der Brillen ist ein Symbol für die gewaltvolle Beförderung der Brüder in die Sphäre der „normalen Leute“ und die Auslöschung ihrer wundervollen Besonderheit, „das andere zu sehen“. Ihre Reaktion auf eine ähnliche Einmischung ist nicht vorhersehbar und grenzt zeitweise mit wutentbrannter Gewalt an den Rand des Mordes, der schließlich unweigerlich stattfindet. Doch der physische Tod erscheint überhaupt nicht tragisch, sondern wird eher aus einer ironischen Sichtweise gezeigt. Tatsächlichen Schrecken ruft der Identitätsverlust des Bruders hervor, der Verlust eben jener „emotionalen Komponente“, und der Übergang in die Welt der „normalen Leute“, der einem geistigen Tod ähnelt. Der jüngere Bruder versucht, die Geschehnisse zu verstehen. Er richtet seine Aufmerksamkeit auf die seltsame Narbe auf der Stirn eines Menschen, der den Sarg seines einst fröhlichen Vaters trägt. Dieser hat Selbstmord begangen. Er erinnert sich an das dümmliche Grinsen des auf nichts reagierenden Subjekts in der psychiatrischen Heilanstalt, in die er gekommen war, um den Bruder zu besuchen. Der trug eine Binde um den Kopf, durch die an der gleichen Stelle, an der sich bei dem Sargträger die Narbe befindet, Blut durchsickerte. Die Fabel entwickelt sich im Weiteren mit spiralförmig zunehmender Beschleunigung. Und sie endet, wie zu erwarten, mit der Lobotomie des älteren Bruders und … Achtung, Frage: Warum sehen wir in einigen Aufnahmen die Narbe auf der rechten Seite der Stirn, während sie sich eigentlich, wie bei allen anderen, auf der linken Seite befindet? Warum interessiert er sich nach wie vor für die Brille des jüngeren Bruders, die er ihm abnimmt? Er müsste sich doch der Idee nach in einen „normalen“ Menschen verwandelt haben, ein friedliches Gewächs, das nichts zu sehen braucht. Der jüngere fällt und zerschlägt sich die Stirn und wir sehen Blut, und zwar an der Stelle, an der die Lobotomie durchgeführt wird. Die Antwort drängt sich von selbst auf – der ältere Bruder ist nur ein Spiegelbild des jüngeren. Ob er schon lobotomiert worden ist oder nur versucht, sich dagegen zu wehren – entscheiden Sie selbst. Make it yourself Wenn man die ziemlich effektiven Methoden der Gehirnwäsche seitens der Regierungen aller Länder an ihren Bürgern in Betracht zieht, die traditionellerweise massenhafte und massive Einwirkungen durch Fernsehen und sonstige Medien einschließen, dann stellt sich die Lobotomie als äußert sperrige mechanische Lösung dar. Nichtsdestoweniger ist diese Methode erstaunlich einfach; ihre Durchführung erfordert keine speziellen medizinischen Kenntnisse. Ein großes Plus dieser Methode ist, dass der Patient im Falle der Notwendigkeit den Eingriff selbst an sich vornehmen kann. Die Operation wird in drei elementaren Schritten durchgeführt: 1. Mit einer äußerlichen Betäubung wird ein Teil der Haut über den Augen betäubt und eine horizontale Kerbe hineingeschnitten. Der Patient, der die Operation an sich durchführt, muss mit einer minimalen Betäubung auskommen, weil er ansonsten den Blick nicht fokussieren kann. Spezialisten empfehlen, die Lobotomie ohne Narkose durchzuführen. 2. In den Einschnitt wird eine schmale metallene Klinge im Winkel von 15‑20 Grad zur Vertikale eingeführt. Die Schneide muss nach oben zeigen, bis sie die geschmeidigen inneren Hirnhäute berührt. Es muss ein Kegel aus dem Gehirngewebe herausgeschnitten werden, mit der Spitze an der Nasenwurzel und einer Basis von ungefähr 3‑4 Zentimetern. Weil die Hirnhäute unempfindlich sind, verspürt der Patient keinen Schmerz, mit Ausnahme der gewöhnlichen Unbehaglichkeiten bei einer solchen Operation. 3. Nun wird eine biegsame Sonde mit einer Öffnung für den Abfluss von Flüssigkeit und die Entfernung des Überschusses an Blut und Zellmasse in die Kerbe eingefügt. Die Öffnung wächst dann wieder zu. Im Falle einer erfolgreichen Operation kehrt der Patient nach einer Woche ins Berufsleben zurück. Auf diese Art kann man sofort handeln. Warten lohnt nicht, wenn man die eigene Regierung in ihren Anstrengungen zur Vervollständigung einer normalisierten Gesellschaft mit ausgemerzter Selbstwahrnehmung und ohne überflüssige „emotionale Komponente“ unterstützen möchte. Doch wenn in den Schaufenstern der Hauptstraße geklonte Mannequins unterschiedlichen Geschlechts erscheinen, einander ablösen und sich unter ihnen sogar Babys mit den Spuren eine Lobotomie befinden, ist das ein eindeutiger Hinweis darauf, dass es Zeit ist, sich daran zu gewöhnen, wie die Gesellschaft in der nächsten Saison aussehen soll und wird: In Mode ist „die Entfernung der Stirnlappen des Gehirns, verantwortlich für die Selbstwahrnehmung und die Fällung von Entscheidungen.“ Und dass die Einschnitte nicht genau aussehen wie im Kino, soll so sein – das ist eben Mode. Überhaupt ist die Länge und Tiefe des Eingriffs nur ein Beweis für die Ernsthaftigkeit der dahinter stehenden Absicht. Auf der VII. Sitzung des Neurologischen Rates (1946) wies N.N. Burdenko, als er von der Wichtigkeit des chirurgischen Eingriffs ins menschliche Gehirn sprach, die Meinung zurück, die Psychochirurgie sei die „Musik der entfernten Zukunft“. Wahrscheinlich wäre er froh zu erfahren, dass es die „Musik der kommenden Saison“ ist, die um uns herum immer lauter ertönt. *Bei der Vorbereitung wurde Material aus Wikipedia und www.pseudology.org genutzt. Aus dem Russischen von Helena Maier.
01.01.2011
Empfohlene Artikel
|
Kommentar
Neuen Kommentar einfügen