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Augenblicke in Museen
Zeitschrift Umělec
Jahrgang 2005, 2
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Augenblicke in Museen

Zeitschrift Umělec 2005/2

01.02.2005

Solvej Helweg Ovesen | theory | en cs de

Momente in Museen
„Wir haben keine konkreten Kentnisse über die Geschichten, die sich auf Situationen in Museen beziehen: darüber, wie sie entworfen oder nicht entworfen wurden. Sich auf die performative Dimension eines Kunstwerks zu konzentrieren ist mit der Frage verbunden, wie Geschichte und Begebenheit in einem Museum verknüpft sind.“

Es gibt einige besondere Situationen in Museen, die ich rückblickend als „Momente“ bezeichne und die es wert sind, in diesem Artikel eingehender betrachtet zu werden. Warum? Weil in diesen Augenblicken etwas passiert ist, das die Konventionen und das Paradigma der Wiederholung, die normalerweise den Lauf der Zeit und die ihr innewohnenden Möglichkeiten verbergen, durchbrochen hat.

Ich möchte auf eine Diskussion um die performative Dimension verschiedener Kunstwerke und Projekte hinweisen, die sich, nicht zu vergessen, in ihrer Beziehung zu Zeit, der Möglichkeit des Effekts und der sozialen Bezüge voneinander unterscheiden. Diese Fragen betreffen Museen in einem hohen Maße, in dem sie situationsbezogene Arbeiten präsentieren, die in der Tat den Begriff der Historizität in Frage stellt, der mit der Räumlichkeit verbunden ist.
Dann möchte ich von einigen spezifischen Situationen berichten, geschaffen von Künstlern und Kulturschaffenden wie Rirkrit Tiravanija, der kürzlich in einer Retrospektive nicht ein einziges Kunstwerk gezeigt hat; wie Tino Sehgal, der permanent die Bedingungen, unter denen Kunst produziert, wahrgenommen und vertrieben wird, in Frage stellt; wie das CAC TV Projekt im Zentrum für zeitgenössische Kunst in Vilnius, eine performative und kritische Plattform für Künstler im Fernsehformat, die selbst ausstrahlt, aber gleichzeitig dem Medium Fernsehen und seinen “Realität programmierenden“ Effekten kritisch gegenüber steht; wie schließlich Julius Koller, der in seinen Anti-Performances Territorien der Kunst absteckt und Vorstellungen von Inklusion und Exklusion thematisiert.

Das, was diese künstlerischen Bestrebungen charakterisiert, ist die Neugier gegenüber dem performativen Aspekt, gegenüber dem Regelwerk, nach dem Bedeutung, Realität generiert werden. Die Regeln werden nicht durch symbolische Kunstobjekte angefochten, wohl aber durch den Entwurf von sehr spezifischen Situationen, in denen Zeit das wesentliche Material ist.

Die Übersetzung des Performativen aus dem theoretischen Kontext der Linguistik in den Kontext der Kunst bedeutet Konzentration darauf, was das Kunstwerk tut, wie es inszeniert ist und welche Beziehung mit dem Zuschauer es gestaltet. Das Wort an sich, performativ, stammt aus der Linguistik und definiert eine Aussage, die ein Akt ist und Realität gestaltet – im Gegensatz zu einer konstantiven Aussage, die berichtet. Beide Aspekte sind grundlegend für jede Aussage und jedes Kunstwerk. Das bedeutet: es hat keinen Sinn, über ein performatives Kunstwerk zu reden, es ist besser darüber zu sprechen, was ein Kunstwerk ausspricht und was es tut:
„ Es hat wenig Sinn, über ein performatives Werk zu sprechen, weil es kein nicht-performatives Kunstwerk gibt. Jede künstlerische „Aussage“ hat eine gewisse Form und einen gewissen Inhalt (auch wenn er manchmal bedeutungslos ist) – genauso hat jedes Kunstwerk eine gewisse performative Dimension: es weckt Aufmerksamkeit, bringt Wirkungen hervor, produziert Erfahrungen und räumlich arrangiert die Körper, die die Erfahrungen hervorrufen.

Zusammendenken von Museum und Theater

Heute werden in Museen intersubjektive, nicht verwechselbare Situationen präsentiert. Die früher gegensätzlichen Aspekte: Arbeit an der Kunst und künstlerisches Ereignis werden in zeitgenössischer Kunst integriert. Sie etablieren oder bezweifeln die Beziehungen zwischen Raum, Menschen und Objekten.
Laut der Berliner Kunsthistorikerin und Theoretikerin Dorothea von Hantelmann ist der Vorgang, in dem Wissen durch Materialisation konstituiert und ausstellbar gemacht wird, schon an sich eine politische Angelegenheit.
Jedes Medium unterliegt bestimmten Produktionsbedingungen und Arten, den gesellschaftlichen Raum zu betreten. Dem gesellschaftlichen Element in der Präsentation von Kunst kommt hier eine gesteigerte Bedeutung zu, weil die Produktion in situ und in actu der Präsentation selbst im Blickfeld steht, die Bedeutung in performativen Momenten also live verhandelt wird. In Bezug auf die performativen Elemente von Kunstwerken sagt Hantelmann weiter: “ “Es produziert und reproduziert zentrale Kategorien, die die Gesellschaft formen: Subjekte, Objekte und gleichzeitig Verhaltensmuster, die Subjekt und Objekt in Beziehung bringen.” Der springende Punkt für sie ist: “Welche Art diskursiver Möglichkeiten produziert die Ausstellungssituation als spezifischer Rahmen für die Wahrnehmung von Kunst in einem institutionellen Raum?”

Die vorgeschlagene Antwort darauf ist das Zusammendenken von Museum und Theater, wobei das Museum – inspiriert vom Theater – die projizierten Identitäten auf eine transparentere Weise projiziert. Hantelmann sagt dazu: “(…da) kommt Theater auf die Bühne der visuellen Künste. Es steigt hier ein, so zu sagen, als eine Kunstform, die die Kluft zwischen einem Kunstwerk und seiner Rezeption versteht. Theater schafft einen sozialen Raum von hier-und-jetzt, der heterogen ist und jede unidimensionale Kategorisation ablehnt. So ermöglicht es uns die Kategorisierungssysteme zu reflektieren.“

Wenn ein Museum zum Beispiel eine Ausstellung wie Rirkrit Tirvanjas „Retrospektive“ ( A Retrospective“) oder Tino Sehgals „Journal # 6“ zeigt, nimmt es einige der Funktionen an, die dem Theater zueigen sind. Es wird zu einem Ort, an dem gesellschaftliche Machtverhältnisse gespiegelt werden und an dem Gesellschaft abgebildet und verhandelt wird.
An den meisten Museen sind das Wissen und die ästhetische Erfahrung, die durch erwerbbare Objekte transportiert werden, vorherrschend. Die Institution Museum ist dafür gemacht, Besucher zu bestimmten Tageszeiten zu empfangen. In vielen Fällen ist der Kampf gegen die alte Identität als Mausuleum (Definition: „eine große Grabkammer, in der Regel oberirdisch“ oder „ein Monument für tote Dinge“) immer noch notwendig. Allerdings beginnen mindestens eine Handvoll Museen, mit dem Augenblick zu experimentieren und ihn manchmal sogar zu meistern.

Rirkrit Tiravanija: Retrospektive...

Neulich habe ich einen Geist getroffen.
Wir wurden durch Rirkrit Tirvanijas Ausstellung „A Retrospective (Tomorrow is another fine Day)“ im Museum Boijmans Van Beuningen in Rotterdam geführt. Die Führung, geleitet von einer jungen Frau, die die Anweisungen des Künstlers ausführte, begann folgendermaßen:

“Unser Weg führt durch eine Ausstellung, in der die überdachten Möglichkeiten zu Aktionen des Gehirns wurden...sie werden hier keine Werke sehen, keine Objekte und keine tiefgefrorene Installationen, die als Eigentum bewahrt werden sollen. Sie werden eher Nichts sehen.”

Allerdings traf dies nicht ganz zu, denn die Führung schuf imaginäre Rückblicke auf Tiravanijas performative Kochsessions und seine architektonischen Interventionen – Augenblicke, die an Ort und Stelle konsumiert wurden, nämlich dort, wo Menschen in Museen und Galerien in Bangkok, New York, Berlin, Wien, Paris usw. ein- und ausgingen. Indes erlebten wir den „Höhepunkt“, als wir das Museum schon fast verlassen hatten. Die Gruppe der Führung hatte sich aufgelöst, und nur einige Personen waren zurückgeblieben. Während der Führung hatte es einen Mann gegeben, der durch die Ausstellung ging während wir der Führerin zuhörten und der immer gerade ging, wenn wir einen neuen Raum betraten oder blieb, wenn wir einen Raum verließen – nicht synchron, sondern vorher und/oder hinterher. Als wir in die Ausstellungsräume zurückgingen, fanden wir ihn und näherten uns ausreichend an:

“Das ist der Lauf der Welt”, sagte er, “zuerst kommt ein angenehmes Gefühl. Dann werden Sie von Ihrem Körper abgetrennt. Sie wandern durch einen schwarzen Tunnel. Dann kommen sie heraus und finden ein strahlendes, weißes Lichtfeld. Sie betreten das Licht und sehen vor sich abgespielt ihr ganzes Leben. Es kann sein, dass Sie ein Wesen treffen, eine verstorbene Geliebte zum Beispiel. Gerade in diesem Augenblick fühlen sie das Rufen von Ihrem Körper, der Sie sucht. Bitte, kehren Sie nicht zurück in den Körper. Nochmals: kehren Sie nicht zurück in den Körper. Diesen Fehler habe ich gemacht (...)
Wo war ich? Ja, ja, ich bin tot, ich bin ein Geist. Davor war ich ein Mädchen. Eine Weltmeisterin in strategischen Spielen. Ich befehligte Kompanien (...) Ein Geist kann zurückkommen in einer anderen Form, er kann unterschiedliche Stimmen annehmen. Es ist nicht so, dass wir unsere Form nicht überleben könnten. Es ist mehr als dass wir keine Lust hätten wegzugehen. Ein Geist leidet an dem Mangel von Endlichkeit (...) Ein Geist ist die ganze Nacht wach, er rüttelt an den Bildern, stellt die Uhren um, schaut in die Bücher im Wohnzimmer, ruft die ganze Nacht Ihren Namen und schaltet Lichter ein und aus – manche Leute nennen dies „ ein Tanz“. Ich habe einen neuen Namen erfunden: ich nenne es Choreographie des Geistes. Wir sind Operationssysteme, die die Gegenwart unterdrücken. Wenn das große C einen bewussten Prozess bezeichnet und das C´ eine unterbewusste neutrale Aktivität, dann bezeichnet das große C‘‘ mich. Lassen Sie mich ihr Gehirn in eine neue Dimension mitnehmen.“

Der Geist möchte uns wegbewegen vom Denken über den Raum hin zum Denken über die Dimension der Zeit, vielleicht eine Art von Amnesie in unserer auf die Aufnahmetechnologien bezogenen Gegenwart. Er hebt das Scheitern der modernistischen Architektur („Wohnmaschinen“) hervor, um Möglichkeiten für die Positionierung unserer Leben, unserer Persönlichkeiten im physischen, politischen und gesellschaftlichen Raum anzubieten.
„Menschen haben sich lange mit der Suche nach ihrem Platz im physischen, politischen und gesselschaftlichen Raum beschäftigt. Alle Gemälden von Velasquez setzen sich zum Beispiel mit räumlichen Problemen auseinander. Heute sind unsere Probleme anders (...) Wir müssen uns in der Zeit suchen (...).
Es ist schwierig über die Gegenwart ohne Vergangenheit zu reden, weil die Vergangenheit etwas Glühendes ist. Die gute alte Zeit, als Capuccino und Sushi und Rucola nicht in der ganzen Welt bekannt waren. Als Cayennepfeffer nicht in jeder Salatsoße sein musste. Als Abenteuer noch kein Sport war und Natur keine Stelle. Als die U-Bahn in Paris nach den Zigaretten roch und die Golfschläger nur für die Elite da waren. Als die Sicherheitsgurte nicht piepsten, wenn Sie sich nicht anschnallten. Als man vor wirklichen Spionen Angst hatte. Als Handys in Zügen nicht verboten sein mussten. Als es noch keinen Aspekt menschlichen Verhaltens gab, der Googling heißt. Damals war nicht jeder Zweite ein Held, jeder Dritte ein Opfer und jeder Vierte ein Neurotiker.
So- hier bin ich. Meine Geschichte wurde verarbeitet. Ich bin jetzt eine Gestalt.
Wir laufen durch Mauer, die aus festhaltender Luft gebaut sind. Sie können Dinge hören. Fiktive Frequenzen. Fiktive psychoakustische Räume – aus Vor- und Zwischenspielen erzeugt.
Passen Sie auf? Am besten ist Notizen schreiben.”

Na gut, ich schrieb einige Notizen auf. Nach diesen Träumereien mit einem Sitcomgeist war meine erste Reaktion leicht paranoid und zeigte mir vielleicht das Behagen an der Gefühlsökonomie, die mir Retrospektion bisher geboten hatte – oder den verführerischen Effekt eines weichen Konservatismus. Dieses letzte Hervorkramen der „guten alten Tage“ (die seit 15 Jahren vergangen waren) bedeutete für mich eine abstrakte Parallele zur Erregung konservativer Gefühle, von der die nachindustrielle/westliche Welt (und ihre Regierungen) heute erfasst werden. Mit den vielen Augenblicken miteinander geteilter Raum-Zeiten, die in Form des Konsums von Essen oder von Zeit Tiravanijas Arbeit bestimmen und die narrative Grundlage der Ausstellung bildeten, lag dieser neue Aspekt in der Frage, wie die Ausstellung den Akt der Reproduktion auf den Besucher zurückwirft – sie tat, was sie sagte. Das Ergebnis waren, auf vielfältige Weise, die Gefühle und Spiegelungen bezüglich des (seltenen) Aktes der Retrospektion – als ein Werkzeug für das Verständnis der Amnesie unserer Gegenwart. Die Bewegungen des Bewusstseins waren lediglich Augenblicke der Retrospektion durch das gesprochene Wort (übrigens muss der Sitcomgeist in seinem früheren Leben ein Poetry-Slammer gewesen sein).

Tino Sehgal: Rückgängig machen; Ver-derben

...Wie sich Ideen durch die Gesellschaft vollziehen...

Das erste Stück, das mir von Tino Sehgal, einem deutschen Künstler mit Hintergrund in Wirtschaft, Tanz und bildender Kunst, begegnete, war „Untitled“ aus seinem imaginären ‘large museum of the Twentieth Century’, in dem er eine eklektische Auswahl moderner Tanzstile aufführte. Als würde er eine kopieren-und-einfügen- und eine Wiederholungsfunktion benutzen, programmiert Sehgal seinem Körper und dessen Gedächtnis die verschiedenen Tanz-Register ein – und ruft damit unter anderem Erinnerungen an Cunningham, Les Ballets Russes und Yvonne Rainer hervor. Das alles mit einer solchen Geschwindigkeit, dass viele Bewegungen nur in dem Moment erkennbar waren, in dem sie aufgeführt wurden, bevor sie von dem nächsten und wieder nächsten Tanzstil gelöscht wurden.
Die Ausstattung war so minimal wie eben möglich – ein nackter Tänzer auf einer „Bühne“, die durch seine Bewegungen in Verhältnis zu hunderten von im Halbkreis auf dem Boden sitzenden Zuschauern in den Berliner Kunstwerken gebildet wurde (Performance-Nacht, „Revisiting History“- 2002). Während er von einem stilisierten Körper in den anderen umsprang, sprach Sehgal zu dem Publikum über die Situation (in der wir uns befanden), darüber, was wir sehen und denken könnten – und reflektierte damit das Machtverhältnis zwischen Zuschauern und dem ‚aufführenden, sprechenden und denkenden Körper auf der Bühne’.

“Für mich war die visuelle Kunst nur da interessant, wo es sich mit der Beziehung zwischen Mensch und Objekt beschäftigt. Aber wie ist es im Theater zu machen? Ich kam auf die Idee den Tanz als Medium in einem Stück vorzustellen und dadurch auf die diesem Medium innewohnende Idee von Produktion hinweisen. Ich wollte ein Stück schaffen, das keine bestimmte Bedeutung im Sinne von Inhalt und Form trägt. Es sollte nur das Medium vorstellen. (...) Ich kam auf die Idee alle im Genre art/stage dance zur Verfügung stehenden Formen und Inhalte vorzuführen. Sie sollten auf diese Weise ihre spezifischen Stellungen gegenseitig auslöschen (...)“


Darüber befragt, was das Museum (Mausoleum) Sehgal bietet, antwortete er: “Ich würde sagen, das Thema von Museen ist Tot, weil sie sich damit beschäftigen, wie man den Tot besiegen kann, wie man Leben verlängern kann. Es hat also zwei Seiten. Mein persönliches Interesse liegt darin, andere Vorstellungen über Geschichte, Gegenwart und Ewigkeit anzubieten. (...)”
Für Sehgal ist wesentlich:”wie diese Ideen in die Gesselschaft geraten und wie sie in der Gesellschaft zum Ausdruck kommen. Sie sind nämlich hier, auch wenn sie nicht mehr da sind.“
In seinen Arbeiten setzt er in Kraft, was er später in seinen Interviews eine „Ideologie des Handelns“ nennt.

In den letzten Jahren hat Sehgals Praxis sich dahingehend entwickelt, dass er andere Menschen wie zum Beispiel Museumswärter, Opernsänger, Kinder und Schauspieler/Tänzer darin anleitet, wie seine Stücke auszuführen sind. Auf diese Art hat er sich noch stärker von den traditionellen Kategorien der Institution Kunst distanziert. Er produziert weder Objekte, Dokumentationsmaterial, schriftliche Anleitungen oder Verträge mit Sammlern, noch signalisiert er durch eine Signatur seiner Werke deren Identität als Kunst. Schließlich führt er sie auch nicht selber auf (und weist so die unterstellte Authentizität performativer Kunst zurück, die das Kunstwerk in Beziehung zum ‚verkörperten Selbst’ des Künstlers setzt). Die Anleitungen werden rein „von Körper zu Körper“ gegeben.

In gewisser Weise integriert und reflektiert Sehgal nur die vorhandenen Kommunikationssysteme des Museums als Medium. Allerdings braucht man mehr als das Museumssystem – das in die neoliberale Marktwirtschaft eingebettet ist, durch die zum Beispiel die Informationsökonomie des Museums beeinflusst wird – um das Museum sich selbst in seiner Medialität reflektieren zu lassen. Im frisch renovierten und erweiterten Van Abbemuseum in Eindhoven, Holland, präsentierte Tino Sehgal die Ausstellung „Journal # 6“. In den Ausstellungsräumen des Museums in dem er seine Arbeit präsentierte, war schon die Sammlung ausgestellt. Nachdem ich seine Arbeiten in anderen Zusammenhängen gesehen hatte, war ich nun neugierig, worauf Sehgals „Das ist...“ in diesem Museum hinweiten würde.

Als ich das Van Abbemuseum betrat, verpasste ich zunächst alle Arbeiten von Sehgal – in meinem hastigen Tempo (diesmal wollte ich die Sammlung überspringen und direkt zu seiner Ausstellung gehen). Keiner der Museumswärter schien zu reagieren, allerdings kam ich durch einen leeren Raum in der Sammlung, der, so dachte ich, mit dem neu angetretenen Direktor und noch aufzubauenden Arbeiten zu tun hatte. Ich bemerkte, dass sich in diesem Raum ein Museumswärter befand, der stark geschminkt war. Vom nächsten Raum aus hörte ich für ein paar Sekunden eine Stimme singen und ich ging zurück, blieb verdutzt stehen, aha, verließ den Raum in Zeitlupe. Ja. Der Wärter sang, und diesmal konnte ich es hören: „ Das ist Propaganda“, nach einem kurzen Atemzug verkündete der Wärter weiter„Tino Sehgal, Das ist Propaganda, 2002, gefördert von Jan Mot Gallery.”

Die Wärter befanden sich nur in einigen Räumen. Als ich durch einen „unbewachten“ Raum mit einem unbewachten Objekt ging, fing ich an, mir die ausgestellten Arbeiten anzusehen und vergaß die Wärter, bis ich spürte, dass sich hinter mir jemand bewegte. Ich drehte mich um und sah einen großen Wärter, der mit den Armen ausladende Kreisbewegungen beschrieb während er sprang. Dann fror er ein: “Tino Sehgal, Das ist gut, 2001, gefördert vom Künstler”. Durch den selbstreferentiellen Akt der Behauptung „Das ist gut“ reflektierte das Stück die tautologische Macht der Vermittlung eines Urteils ( - die im Kontext der Kunst so oft beobachtet werden kann). Ich hatte das Stück zum ersten Mal in Berlin gesehen, wo Dorothea Hantelmann es in einer Vorlesung an der Universität aufführte. Es funktionierte in beiden Kontexten, nur dass hier im Van Abbemuseum „This is good“ ein etwas längeres Echo erzeugte. Es evozierte all die vorangegangenen Urteile, die Kuratoren während der Zusammenstellung der Sammlung des Museums gefällt hatten indem sie Ideen diskutierten und „Kriterien“ dafür festsetzten, welche Dinge ihren Weg durch die Gesellschaft finden sollten (so wie es auch bestimmte Tanzstile getan haben). Im Oeuvre von Tino Sehgal “…Sprechen, Singen und Sichbewegen – all das löscht die nötige Anwesenheit der Dinge; das heißt aber nicht, dass diese Dinge verschwunden sind, sie können aber auch abwesend sein.“

CAC TV: Ein Zeitfenster, um sich alternative Realitäten vorzustellen

„Performativität“ oder „das Performative“ darf nicht als eine neue Theorie gesehen werden, sondern vielmehr als ein Faktor in allen Systemen, der diese möglicherweise einreißt und aufbaut – als Menschen reproduzieren wir mit unseren (Sprech-) Akten nicht nur Systeme, sondern wir führen sie immer auch auf („we perform them“). Ausstellungen, Theaterstücke, Sportereignisse, Konzerte, Partys, Fernsehprogramme, Vorträge usw. sind Kulturelle Performances, die entlang verschiedener von den Teilnehmenden dargestellter Regeln funktionieren. Sich auf den performativen Aspekt einer Kultur zu konzentrieren bedeutet eine Wahrnehmung der Welt als in einem konstanten Prozess des Werdens befindlich und eine Wahrnehmung unserer selbst als Co-Produzenten der Realität.

Es mag überraschen, dass ich nun in diesem Zusammenhang der performativen Augenblicke im Kunstkontext eine Fernsehsendung vorstellen werde. Allerdings hat das CAC TV einen sehr speziellen Hintergrund und eine besondere Prämisse: „Jede Sendung ist eine Pilotsendung. Jede Sendung ist die letzte Episode“. Es ist eine Fernsehsendung darüber, wie eine Fernsehsendung gemacht wird, produziert von Künstlern und Kuratoren aus dem Umfeld des Zentrums für zeitgenössische Kunst (Contemporary Art Centre, CAC) in Vilnius, Litauen. Die Gelegenheit für CACTV ergab sich, als das CAC von einem kommerziellen litauischen Fernsehsender eingeladen wurde, wöchentlich eine 30minütige Sendung beizutragen.

Zunächst möchte ich drauf hinweisen, dass das CAC eine Sammlung der Fluxus Bewegung hat, die sehr Wchtig für die Identität des Zentrums ist. Das Zentrum hat also Erfahrungen mit dem performativen Aspekt der Kunst, mit seiner Produktion und Repräsentation.

Das CACTV als neues Projekt des CAC fungiert ebenfalls als eine performative Plattform für vorübergehende Kollaborationen. Es steht ‚Künstlern und Fernsehenthusiasten’ zur Verfügung, die das Bedürfnis haben, zu verändern, was im Fernsehen übertragen wird, und zwar sowohl in Litauen als auch im Ausland (Sendungen können im Internet angesehen werden). “ Ein Zeitfenster, um sich alternative Realitäten vorzustellen“ („A timeslot for imagining alternate realities”) lautet der Abriss dieses neuen Fernsehprogramms. Während die Darsteller oder Teilnehmer in jeder Episode wechseln, sind der Kurator und Programmierer Raimundas Malasauskas und die Redakteurin Maria Bustnes die engagierten Triebfedern hinter der Sendung, die – wie die beiden behaupten. – allerdings keine Fernsehsendung ist. Das Ziel war von Anfang an, die Prämissen für jede der 30minütigen TV-Produktionen (Script, Grundregeln) neu zu bestimmen. “Jedes Programm ist eine Pilotsendung. Jedes Programm ist die letzte Episode.“ (ein guter Slogan kann nicht oft genug wiederholt werden). Das im Internet einsehbare offene TV-Logbuch führt weiter aus:

“Es ist ein Fersehprogramm darüber, wie man ein Fernsehprogramm erzeugt. Es geht hier eigentlich um ein neues Genre: RealityMetashow, das das bestehende Format der Realität (des Programmierens) dekonstruieren will. Das Ziel ist eigene Realität, eigenes Programmieren und eigenes Realitätsprogrammieren zu schaffen.
Wir wollen Zuschuauer dazubringen, dass sie aktiv werden, sie können sogar Produzenten werden. Wir wollen Aufmerksamkeit in die Menschenmasse bringen. Wir wollen uns mit dem narkotischen Unsinn, der oft für Unterhaltung gehalten wird, auseinandersetzen. Wir wollen Kreativität und Kritikfähigkeit des Zuschauers erwecken, dabei aber „anschaubar“ bleiben.“

Zusammengefasst können wir sagen, CACTV weist in die Richtung eines längerfristigen Projektes, in dem ein Fernsehteam innerhalb der Zeitvorgaben und der öffentlichen Wahrnehmung von kommerziellem TV – wöchentliche Programme, Deadlines, großes Publikum, Teilnahme von und Beurteilung durch ein anderes Publikum als zum Beispiel das des CAC – arbeitet. In gewisser Weise werden die Voraussetzungen des traditionellen Fernsehens ausgeschaltet, indem jede neue Episode eine Möglichkeit bietet, neue Regeln oder Instruktionen für ihre Produktion zu erfinden – weil jede Sendung die letzte Episode ist. Die Episoden, die bisher ausgestrahlt wurden, reichen von der ersten mit dem Titel „Behind the Scenes“, in der es darum ging, wie die erste Sendung gemacht wird inklusive eines Casting für CATV (speziell dafür wurde ein Affe aus dem örtlichen Zoo eingeladen, oder war er nur zur Launch-Party gekommen?), über die zweite Episode, in der eine professionelle Fernsehmoderatorin im Studio darüber beriet, wie man eine richtige Fernsehsendung macht, während sie gleichzeitig als eine vom Fernsehen produzierte Figur untersucht wurde, bis hin zu einer Koproduktion mit Kindern, in der es unter anderem um Charaktere in Computerspielen und Fernsehsendungen ging.




Julius Koller: Demarkation

Schließlich, da viele dieser Momente als auf verbale, performative und zeitliche Art und Weise entterritorialisierend (bezüglich Konventionen, Medien, Identitäten) gesehen werden können, möchte ich gerne eine Anti-Performance des slowakischen Künstlers Julius Koller erwähnen: Demarkation (Demarcation, 2004). Julius Koller bezeichnete sich selbst als „U.F.O.naut“ und verwies so auf seine Außenseiterposition als „subjektiv-kultureller Handelnder“, der in 20 Jahren eine Reihe konzeptueller Werkzeuge entwickelt hat, um in der Tschechoslowakei unabhängig zu bleiben. Er entwickelte sein eigenes Anti-Universum, bestehend aus kulturellen Situationen und Anti-Happenings innerhalb der wahrgenommenen ‚Realität’, allerdings immer mit einer fiktiven Distanz zum täglichen Leben sowohl des Kommunismus als auch des Post-Sozialismus. Damals waren diese Situationen nur für eine kleine Gruppe von Menschen zugänglich. Vor kurzem führte Koller eine seiner Anti-Performances, Demarcation, im Utrechter Central Museum auf.

Der Kontext war eine Gruppenausstellung mit dem Titel „Cordially Invited“, in der eines der Hauptanliegen war, über das Konzept der dynamischen Gastfreundschaft im Kontrast zu Vorstellungen über eine „herzlichen Einladung“ (statisches Verhältnis zwischen Gastgeber und Gast) wie sie die alten EU-Staaten den EU-Beitrittsländern im Jahr 2004 anboten, nachzudenken.

Im Ausstellungsraum, unter 25 grautönigen Flaggen der Länder der erweiterten EU – einem Stück von Wilfredo Prieto García, „Apolitical“ – begann Koller ohne Vorankündigung die Ausstellungsfläche zu umreißen und rahmte dabei das Vernissagenpublikum mit einer weißen Kalklinie ein. Ganz wie die Linien, die ein Fußballfeld markieren. Mit einer orangefarbenen Weste und mit geübten Bewegungen hantierte er mit der altmodischen Kalkmaschine: Er schüttelte sie um zu gewährleisten, dass genug Kalk herauskommt und die Linie gleichmäßig wird. Nach einer halben Stunde war Koller fertig mit der Arbeit und platzierte die Kalkmaschine in der Ecke (unter der slowakischen Flagge!!). Ein Moment, in dem Inklusion und Exklusion des Feldes einander gleichzeitig auslöschen während Menschen in die markierte Zone ein- und aus ihr heraustreten.

Wer also ist schließlich auf der Bühne und wann ist das so? Das Theatralische ist eine Triebfeder für die Erschaffung von Kultur. Wie leben in einer Kultur, in der Menschen sich selbst und ihr Leben permanent inszenieren: Politiker, Künstlergruppen, Designer, Wirtschaftsunternehmen – als einen Wettbewerb der Realitäten. Überall – im urbanen Leben, zu Hause – gibt es verschiedene Umgebungen, Schauplätze, die sowohl Regeln der Interaktion als auch eine bestimmte Lebensweise andeuten. Diese theatralischen und performativen Tendenzen der zeitgenössischen Kultur müssen in der bildenden Kunst und in anderen Formen von Performances zur Schau gestellt oder angefochten werden, um sie zu objektivieren. Die performativen Aspekte zeitgenössischer Kunst bewegen die Bühnen, verändern die Rollen und entwurzeln die Routine, die Systeme, die Identitäten und Räume, die wir kennen. Wenn existierende Museen oder Kunstinstitutionen als Medien fungieren wollen, die das Auftauchen dieser unvorhersehbaren Augenblicke erlauben, brauchen sie zunächst Respekt gegenüber ihrem eigenen Organismus. Sie brauchen außerdem ein erneuertes Wissen über verschiedene Formen der Produktion und der Vermittlung, darüber, wie das Objekt ein Wort oder eine Aktion wird, die genauso gut abwesend sein könnte, denn ist sie überhaupt da? Was ist nicht da?





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