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Über das Jahr 1989 und die Systeme, die ich erlebteZeitschrift Umělec 2010/101.01.2010 Ivan Mečl | en cs de |
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Zum Opfer des Konsums wird alles, was wir über den Rahmen unserer Lebensbedürfnisse verwenden und entwerten. Der Konsumprozess bedeutet eine Entwertung materieller und immaterieller Ressourcen. Dass das aber auch für Gedanken gilt, war eine Überraschung.
Als Reaktion auf das Gefeiere um den Jahrestag der Novemberrevolution im Jahr 1989 habe ich für die Leser einige Abschnitte aus dem jüngst erschienenen Buch Společnost nevolnosti („Gesellschaft der Unfreiheit“) des tschechischen Philosophen Václav Bělohradský mit einigen Textteilen aus dem Projekt Postcapital Archive des spanischen Künstlers Daniel Andujar in Zusammenhang gebracht. Die Textabschnitte sind in neu gebildeten Kapiteln zusammengefasst, daneben werden mediale Doppelbilder gezeigt. Auf ähnliche Weise wie Bělohradský, der in seinem Buch die Urheber der Widersprüche und Mechanismen des Verfalls unserer vermeintlich funktionierenden Welt aufdeckt, verwendet auch Daniel Andujar Bilder. Zwar arbeitet der Künstler mit Fertigergebnissen medialer Kampagnen und Strategien, sein Hauptfeind ist jedoch deren Flut. Seine Virtuosität besteht in der Auswahl und Verknüpfung. Die nachstehenden Seiten haben folgende Botschaft: Nicht jeder von uns in Osteuropa denkt in der gleichen Weise, wie es von den hiesigen politischen Possenreißern auf ihren opulenten Feiern zum Ausdruck gebracht wird. Auch wenn uns die neuartige Busy-Epoche um viel Zeit zum Nachdenken bringt, haben wir keineswegs zu denken aufgehört. Auch wenn die Infotainment-Industrie unseren Geist zersplittert hat, ist dieser längst noch nicht vollends zerfallen. Gleichermaßen, wie wir unter den früheren politischen Verhältnissen die Fahnen derjenigen Staaten, mit denen unsere Regierungen befreundet waren, nicht geschwungen haben, tun wir es auch heute nicht. Wir weisen jedes Fahnenschwenken zurück. Wir weigern uns, Wappen, Zeichen und Embleme zu ehren. Wir wollen kein Verständnis für Zielsetzungen, Konzepte, Systeme, Kontexte und Interessen aufbringen. Die überall abgehaltenen Feiern der Revolutionsjubiläen in Osteuropa haben doch nur eine megalomane Spitzbüberei aufgeführt, an der neben der politischen Repräsentation größtenteils auch die Kulturszene gegen Entlohnung teilgenommen hat. Für die eigentliche Kulturszene, ihrerseits existentiell nur noch auf Dotationen abgestellt, ist dies nur noch eine logische Schlussfolgerung. Deren Wirkungsbereich und gedankliche Konzeptionen sind dank ideologischer und politischer Forderungen der subsidiären ökonomischen Programme degeneriert, obzwar Begriffe wie Unabhängigkeit und Unparteilichkeit in ihrem Vokabular das Wort führen. So etwas geht unter die Haut – ob man will oder nicht. Für die mit dem Jahr 1989 verbundenen Aktionen stand den beflissenen Institutionen und Bewegungen Osteuropas noch mehr Geld zur Verfügung. Einige von diesen Organisationen waren mit einem Zeitvorsprung entstanden, und zwar zu dem alleinigen Zweck: Geld abschöpfen, die Hälfte davon abzweigen und für den Rest ein lärmendes Spektakel veranstalten. Für die unverblümte Agitation und bombastischen Feierlichkeiten anlässlich des Mauerfalls hier in Berlin hätten sich nicht einmal die ein- stigen Festlichkeitsorganisatoren der Großen Oktoberrevolution schämen müssen. Und gesetzt den Fall, dass es sich bei den Ausstellungskuratoren von „1989“ um Intellektuelle gehandelt hat, führte diese Ausstellung in Wien anschaulich vor, was sich die Kaffeehaus-Intelligenzija im Westen unter dieser Jahreszahl so vorstellte: nämlich gar nichts. Sie versteht das historische Jahr nicht, verwendet es für eigene abstrakte Kontexte und Erzählungen wie ein Logo. So darf man sich dann auch nicht wundern, wenn jene historische Jahreszahl der Welt eine noch schlechtere Gesellschaftsordnung als deren eigene geboren hatte. Ich habe einundzwanzig Jahre im Sozialismus gelebt, und einundzwanzig Jahre lebe ich nun im Kapitalismus. Ich bin wählerisch. Daher gefällt mir keines der beiden Systeme. Beide lügen, stehlen, betrügen, vergewaltigen und morden. Die bekannte Ausrede hinsichtlich der Fehltritte Einzelner darf hier nicht gelten. Die gewählten Repräsentanten beider Systeme haben solche Taten stets entschuldigt bzw. verheimlicht. Hier liegt etwas verhängnisvoll Falsches vor. Die postsozialistischen Länder werden nun von seiten einer räuberischen Gemeinschaft des ökonomischen Sektors aller politischen Parteien rechter bis linker Couleur gelenkt. Dieses Bündnis der destruktiv strukturierten Eliten vernichtet sowohl alle positiven Aktivitäten im Privatsektor, aber auch sämtliche Versuche um eine Verbesserung seitens der bürgerlichen Initiativen. Die regierende Gruppe verfügt über eine abstrakte Menge an gestohlenem, gewaschenem oder nachgedrucktem Geld. Ihre Vertreter weisen ihre eigene Qualifikation mittels gefälschter Nachweise aus, legen flexible Lebensläufe vor. Sie schirmen sich mit bezahlter bürgerlicher Unterstützung und akademischen Titeln ab, die ihnen von Akademikern zuerkannt bzw. von Schulen verliehen werden, die wiederum von ihnen ausgehalten bzw. mit eigenen Kadern besetzt werden oder ihnen einfach gehören. Ausreden solcherart, dass es auf den entsprechenden Posten doch hie und da einige Gerechte und Ehrliche geben muss, gelten hier ebenfalls nicht. Hier sollte das Gewissen eine Rolle spielen, denn wer so spricht, der dürfte mit solchen Menschen nicht an einem Tisch sitzen, müsste seine Mitgliedschaft in deren politischen Parteien aufgeben und seine Mitarbeit in den von den Genannten geführten Institutionen oder Firmen aufkündigen. Wenn eine solche Gesellschaftsordnung den Tod nur eines einzigen mittellosen Menschen neben einem leeren, beleuchteten und beheizten Bürogebäude zulässt, sind alle unbeeindruckten Bürger des Verbrechens gegen die Menschlichkeit anzuklagen. Die einzige Lösung für eine solche Gesellschaft ist dann die Veränderung der bestehenden Ordnung. Wenn die Macht einen einzigen Menschen wegen abweichender Gesinnung und gesellschaftlicher Haltungen bestraft, verliert sie dadurch ihre eigene Legitimität und die Bürger dürfen ihr nicht mehr gehorchen. Die linken Theoretiker hatten früher die Intellektuellen als eine Klasse definiert. Später wurde diese Sicht verallgemeinert. Nach dieser Auffassung handelt es sich bei den Intellektuellen um eine Gruppe von Menschen, die ihren Lebensunterhalt mit Denken und kreativer Tätigkeit verdient. Diese Gruppe ist in den letzten Dekaden sehr stark angewachsen. Desgleichen hat dieses Wachstum auch Veränderungen mitsichgebracht. Im 19. Jahrhundert hatte das sich aufblähende Proletariat somit zum Entstehen einer gesellschaftlichen Gruppe beigetragen, die von Marx als das Lumpenproletariat definiert wurde. Überraschenderweise hat jedoch diese Lesart nichts mit Lumpen zu tun. Ein Lump kann im Deutschen auch Hader bedeuten, und folglich hatte Marx mit seinem Begriff diejenigen bezeichnet, die weder zur Selbstbewusstseinbildung noch zu jeder Art von Aktion imstande waren. Inzwischen haben wir unsere eigene Lumpenintelligenzija: eine riesige Fraktion von gebildeten und kreativen Menschen, die vor Angst zittert, als Aktivisten, Rechte oder Linke bezeichnet zu werden. Von daher sind sie zu jeder Art von mutiger, klarer Kritik an den Zuständen der Gesellschaft und deren Kultur unfähig. Und dennoch stimmen sie der offiziellen Interpretation bei, dass das Jahr 1989 das Ergebnis der Sehnsucht nach dem Kapitalismus war, ergo eine rechte Revolution. Damals war ich Student und kann mich an alles noch sehr gut erinnern. Vor 1989 hatten wir zusammen mit Mitschülern und Freunden alles dafür getan, um die gesellschaftliche Ordnung unseres Landes zu ändern. In den revolutionären Wochen des Novembers 1989 hatten wir an studentischen Revolutionen teilgenommen, waren bei den Protestbesetzungen und Streiks dabei, hatten Überzeugungsarbeit in Fabriken und Bergwerken geleistet. Ich selbst stamme aus einer Familie, die unter dem früheren Regime kein schlechtes Leben führte, im Gegenteil: Mein Vater war ein hoher Funktionär. Er war es aber auch, dem unsere Sehnsucht das Leben verändert hat. Seine Kariere war beendet. Ich habe mich bei ihm dafür nie entschuldigt, und er hat mir überraschenderweise niemals Vorwürfe gemacht. Vor der Revolution hatte es zwischen uns eine Menge Streitigkeiten und Zwistigkeiten gegeben. Nun – er hatte wohl auch die Schnauze voll. Ich werde das Jahr 1989 nie bereuen. Aber ich schäme mich dafür, wie die ältere Generation, der wir den Sieg überreicht haben und in die Schulen zurück gekehrt sind, später mit ihm umgegangen ist. Nach der Revolution habe ich alles das ausprobiert, was die neue Ordnung im Angebot hatte. Unternehmungen, Beteiligung an Entscheidungen im Rahmen von Institutionen, Veröffentlichung von Büchern neuer Autoren. Ich habe unabhängige Zeitschriften gegründet, Filme gemacht, war Schauspieler in Theatern und Organisator von allem, was möglich und unmöglich war, sowohl hier bei uns, als auch draußen in der Welt. Und ich habe alle Genüsse ausgekostet, die wir uns bis dahin nicht leisten konnten. Alles satt, und später noch mehr als das: Sinneseindrücke, Lust, Kultur, Ungebundenheit, Perversion, Luxus, Drogen, Schnelligkeit und Technologie. Trotz alldem, aber auch gerade deshalb bin ich der Ansicht, dass wir nach 1989 die Möglichkeit hatten, einen Schritt nach vorn, aber auch zurück zu machen. Wir haben die zweite Möglichkeit gewählt. Nach meinem Dafürhalten war das ein Fehler. Und genau davon handeln die folgenden Seiten.
01.01.2010
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