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Postrock 101
Zeitschrift Umělec
Jahrgang 2010, 2
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Postrock 101

Zeitschrift Umělec 2010/2

01.02.2010

Petr Ferenc | The End of the Western Concept | en cs de ru

I.

„Und wie tief, würden Sie sagen, ist dieser Tümpel?“, fragt der Reiseführer in der Tropfsteinhöhle und zeigt mit der Hand über das Geländer auf eine Pfütze von durchsichtigem Wasser mit einem leicht smaragdfarbenen Schimmer. Es sieht so aus, als ob ich den Grund mit den Füßen erreichen und dabei noch mit dem Kopf über Wasser stehen könnte, doch da berichtigt der Höhlenliebhaber schon meinen Irrtum: „Sechs Meter. Stellen Sie sich vor, wie nahe einem alles durch das Wasser vorkommt.“
Solch einen Tümpel gibt es in jeder anständigen Tropfsteinhöhle, genau wie es in jedem anständigen Schloss ein Gemälde gibt, das einen verfolgt, wohin man sich im Raum auch bewegt (und wer weiß, was es anstellt, wenn man im Nachbarzimmer verschwindet). Es sind derart banale Requisiten eines Theaters, das die Reiseführer da mit ihren Schäfchen spielen, dass wir diese zumeist mit einem gnädigen, allwissenden Lächeln abtun.
Doch dann kommt der Moment, in dem genau diese Dinge in unserem Gehirn auftauchen und wir uns halb gewollt, halb ungewollt an ihrer offensichtlichen Stupidität ergötzen. Bei einer guten Stimmung können unter der Oberfläche (des seichten, smaragdfarbenen Tümpels) ungeahnte Tiefen und verborgene Schlupfwinkel entdeckt werden, und aus den wässrigen Augen der faden Komtess segeln nun Schiffe hervor.

II.

Die Musikrichtung, die Postrock genannt wird, rekonstruiert ebensolche Momente. Godspeed You! Black Emperor sind in diesem Rahmen wahre Meister des Spiels mit unklaren Grenzen zwischen Banalität und Geheimnis, zwischen Pompösität und aus Schuhen herausragendem Stroh, zwischen Verschämtheit und Exhibitionismus.
Es scheint, dass die erste Hälfte der Neunziger, in der nicht nur GY!BE, sondern auch ihre Genregenossen Tortoise, Labradford und andere entstanden, irgendein Problem mit Schönheit und Einfachheit gehabt hätte, an die man sich anscheinend anonym heranschleichen musste, hinter dem Schutzschild eines hochgeklappten Hemdkragens in verdreckte und anrüchige Kinos. Aus dem Werk der genannten Bands hören wir die eindeutige Sehnsucht nach monumentalen, gewölbten Klanggebäuden heraus, voller mutiger Krümmungen und Lichtern, die Sehnsucht nach Tausenden Geigen und Engelstrompeten, die sich mit den einzelnen Tönen einfacher, dahergeklimperter Motive verflechten.
Das ist die Musik, die sich im Kopf des Gitarristen abspielt, der gutgelaunt und übermüdet nur vor sich herzupft – begleitet er seine Träume oder begleiten sie ihn? Ähnlich wie das Vorsichhinsingen im Bad, in die Kopfhörer oder andere akustische Träumereien ist dieses Zupfen so intim, dass sich die meisten Menschen damit lieber nicht öffentlich präsentieren wollen. Der Postrock hat sich für ein akustisches Coming-out entschieden.

III.

Und das ist dem Postrock gelungen, so gut es geht, nämlich zur Hälfte! Die Attraktivität des unendlichen Daherzupfens einfacher Motive kennen nämlich all die Würdigen, die jemals in einem Proberaum ein Instrument gespielt haben, denn genau so verläuft nämlich meistens das verfluchte, unendliche „sich Einspielen“. Die Einfachheit des Spiels ist intuitiv und wortlos, der entlockte Sound klingt für alle Beteiligten so wundervoll, dass die Ergänzung durch eine andere Botschaft gar nicht erst in Erwägung gezogen wird. Durch den Postrock kehren gestandene Musiker wieder zu ihrer anfänglichen Begeisterung zurück.

IV.

Um sich nicht dafür schämen zu müssen, ergänzen sie ihre Musik mit geheimnisvollen Klangstücken, Unvollständigkeiten, Anonymitäten, Illustrationen, die mit dem Inhalt der Musik vielleicht nicht annähernd etwas zu tun haben. Besonders gut funktioniert es, wenn man nicht aus demselben Land wie die Band stammt: Sind die unsinnigen Malereien, aufgelesenen Fotos, Ausschnitte von TV-Predigern und andere audiovisuelle Patina etwas Typisches für das Herkunftsland der Musik, ein Insiderwitz der Schöpfer oder eine eigenwillige Zufälligkeit, in der – falls man sich die Mühe gibt – mehr Zusammenhänge gefunden werden können, als tatsächlich eingefügt wurden? Die Antwort lautet natürlich a), b) und auch c), aber in welchem Verhältnis? „Entsprechend nach Augenmaß (Ohrenmaß)“, sagt jeder vernünftige Koch, das muss man einschätzen können. Nach Jahren des Trainings und der Kontemplation lernt man die Tiefe der Tropfsteinhöhle abzuschätzen, oder man findet heraus, dass es egal und der Reiseführer mit seinen Fragen ein peinlicher Idiot ist .


Aus dem Tschechischen von Filip Jirouš




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