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The red shoes
Zeitschrift Umělec
Jahrgang 2011, 1
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The red shoes

Zeitschrift Umělec 2011/1

01.01.2011

Hilary Davidson | film | en cs de

Es ist Nacht. An der Bahnsteigkante einer menschenleeren U-Bahn-Station steht ein Paar wunderschöner roter Schuhe, allein und prêt-à-porter. Niemand ist da; die Schuhe sind verlassen, herrenlos. Warum sie nicht aufheben, anziehen und mit nach Hause nehmen?
Der koreanische Film Bunhongsin (The Red Shoes) von Yong-gyun Kim (2005) liefert grauenvolle Antworten auf diese Frage und offenbart in einer Geistergeschichte über weibliche Identität und die psychologische Anziehungskraft von Schuhen die Fatalität der Besitzgier. Motive des J[apanischen]-und-K[oreanischen]-Horrorgenres knüpfen an zwei Vorlagen westlicher Herkunft an, denen der Filmtitel huldigt: an das Märchen Die roten Schuhe (1845) von Hans Christian Andersen sowie an den gleichnamigen Ballettfilm von Powell und Pressburger von 1948. Die in einen Titel verpackten drei Werke bilden eine von mehreren in Bunhongsin wiederkehrenden Triaden: die wiederholten Konkurrenzkämpfe zweier Frauen um das von ihnen beanspruchte Objekt der Begierde, ob ein Mann oder ein Paar Schuhe. Bunhongsin betont die in den ursprünglichen Texten implizierte Gewalt und verstärkt die Wirkungskraft der roten Schuhe als Metapher eines leidenschaftlich-destruktiven Self-Fashioning.1
Im Prolog verfällt ein Schulmädchen dieser Versuchung, während es in der U-Bahn auf eine Freundin wartet. Sobald das Mädchen die Schuhe in die Hand nimmt, verläuft der Übergang in die Welt der Magie abrupt. In der nächsten Einstellung trägt sie die Schuhe bereits an ihren Füßen. Aus dem Nichts taucht ihre hübschere Freundin auf und erhebt Anspruch auf die roten Schuhe2. Warum verursachen sie sofort ein solch eifersüchtiges Verlangen? Die Schuhe selbst sind archetypisches Design des 20. Jahrhunderts – modisch von den Zwanzigern bis heute (nicht zufällig erinnern sie an die rubinroten Schuhe aus dem Zauberer von Oz). Der Neuankömmling gewinnt den Kampf um die Schuhe und fährt nach oben – oder laufen die Schuhe mit dem Mädchen? – in den ersten Lichtkorridor des Films. Obwohl allein, hallen die Geräusche anderer Schritte drohend durch die menschenleere Station, bis das Mädchen mit dem Aufblitzen einer dunklen Figur nach hinten stürzt. Die zurückfahrende Kamera lässt die unterhalb der Waden abgetrennten Beine erkennen, als ihr Schreien einsetzt …
Andersens eitle Heldin wird von ihren roten Schuhen beinahe zu Tode getanzt, bis sie den Scharfrichter bittet, ihr die Füße abzuschlagen. Die Sündenbock-Schuhe tanzen mit den abgetrennten blutigen Stümpfen „in den tiefen Wald hinein“3, die physische Entfernung von Sünde, durch die das Mädchen und seine Seele gerettet werden. Bunhongsin kehrt diese Formel um, indem die Schuhe vor dem Mädchen gerettet werden. Die Amputation verläuft tödlich; die Schuhe absorbieren die Blutspuren, kehren zu einem unberührten Zustand zurück und sind bereit, aufs Neue zu töten. Schon Die roten Schuhe von 1948 bilden eine konzeptionelle Verbindung. Hein Heckroth, der oscargekrönte Bühnenbildner, brachte die Handlungen des Films mit einem prägnanten Resümee auf den Punkt: „Das Mädchen will die roten Schuhe. Es bekommt sie. Es wird von ihnen zerstört. Dann kommen andere Mädchen und werden auch zerstört.“4
Im Verlauf von Bunhongsin übertrifft die Fetischkraft der Schuhe alles andere, auch die Handlungen der Frauen, die die zauberhaften Schuhe für einen tödlich kurzen Augenblick besitzen. Die Trägerin geht zu Grunde, die Schuhe beginnen die Geschichte von vorn. Die Verlegung der Amputation von der Klimax auf den Anfang kehrt die Erzählfolge um, so dass die erzählte Geschichte den verfluchten Ursprung der Schuhe offenbart.
Nach diesem blutgetränkten Beginn setzt die eigentliche Handlung ein. Eine bürgerliche Mutter verlässt mit der kleinen Tochter Tae-Soo ihren untreuen Ehemann. Sie zieht in eine kleine Wohnung und beginnt mit der tanzverliebten Tochter ein neues Leben. Die roten Schuhe findet die Frau in einem Zug und nimmt sie mit nach Hause. Als Tae-Soo diese entdeckt, wird sie geradezu besessen von den Schuhen und entwendet sie mehrmals ihrer Mutter, die denselben eigenartigen Zwang verspürt. Eine zu Besuch gekommene Freundin kann der Anziehungskraft der Schuhe nicht widerstehen, stiehlt sie und wird noch am selben Abend tot in einem Schaufenster gefunden, mit nur einem Auge, ohne Füße und ohne Schuhe. Im Verlauf mehrerer, zunehmend verstörender, übernatürlicher Ereignisse tauchen die Schuhe stets wieder im Besitz von Tae-Soo auf. Blut sprudelt aus Waschbecken oder strömt von Zimmerdecken, mysteriöse Schritte sind zu hören, geisterhafte Figuren aus der Vergangenheit treten plötzlich auf.
Mit Hilfe von Flashback-Visionen entwickelt sich die Erzählung von zwei Balletttänzerinnen aus dem Jahre 1944. Die bessere Tänzerin Oki besitzt die roten Schuhe und die Liebe des Cho-
reografen. Ihre von Eifersucht zerfressene Rivalin Keiko tötet Oki und übernimmt ihre Schuhe, ihren Mann und ihre Rollen. Doch Oki übt ihre übernatürliche Rache in einer Szene aus, in der das neue Paar an ihrem Hochzeitstag erdrosselt wird; und es ist auch Oki, die bis zum heutigen Tage in den Schuhen herumspukt. Als das Muster deutlich wird – jede Frau, die die roten Schuhe einer anderen wegnimmt, muss sterben – bekommt die zeitgenössische Frau Angst um das Leben ihrer Tochter. Zugleich ist sie hin- und hergerissen von ihrer Wut über Tae-Soos Weigerung, ihr die Schuhe wieder auszuhändigen. Das Dénouement findet mittels einer stilisierten Mechanik aus Geistererscheinungen, Zügen und Dunkelheit in derselben leeren U-Bahn-Station statt. Der Film identifiziert letztendlich die moderne weibliche Psyche mit Oki und Keiko, die das Wesen des Fluches in Frage stellen, und endet in einer gespenstischen Mehrdeutigkeit.
Die Protagonistin lernen wir in ihrer Vorstadtküche kennen. Sie ist anonym, namenlos, eine Triade aus Mutter, Vater und Tochter. Ihre Beziehungen bestimmen ihre Identität: ungenügende Ehefrau, ignorierte Mutter, ängstliche Frau, keine individuelle Person. Erst nach einer Stunde erfahren wir ihren Namen: Sun-Jae.
Namen und Identitäten sind Schlüsselfragen der Erzählungen von den roten Schuhen. Andersen nennt das „kleine, gar feine und hübsche Mädchen“ erstmals Karen, als ihre Mutter stirbt und sie ihr erstes Paar roter Schuhe erhält.5 Powell und Pressburgers lebhafte Ballerina Vicky verliert ihren Namen und wird aufgrund ihrer unreifen Weiblichkeit im Hauptballett von Die roten Schuhe nur als „Das Mädchen“ bezeichnet. Als Sun-Jae die Untreue ihres Ehemannes entdeckt, wird diese auf ähnliche Weise verkörpert – durch schicke teure Schuhe, mit denen die zentrale Metapher des Films aktiviert wird: Schuhe ersetzen Identitäten. Sun-Jae kommt früher nach Hause und findet neben der Eingangstür ein Paar Männer- und ein Paar Frauenschuhe vor. Das erste, was sie von den geheimen Tätigkeiten im Obergeschoss sieht, ist ihr eigener schwarzer Stiletto am koital verrenkten linken Fuß der anderen Frau.
Die folgende Szene präsentiert Sun-Jaes erstaunliche Schuhgarderobe, inszeniert in einer visuellen Rhetorik aus zerstreutem Licht und einem alles umhüllenden Teppich eines luxuriösen Ausstellungssalons. Glitzernde Wandregale eröffnen Visionen von grazilen Fersen und juwelengeschmückten Zehen – ein persönlicher Festschmaus objektivierter Schönheit. Sun-Jae übt, in den schwarzen Schuhen zu laufen, derer sich die andere Frau später bemächtigen wird. Ein dreiteiliger Spiegel bestätigt diesen Akt performativer Identität, indem er Sun-Jae zurück auf sich selbst reflektiert, dargestellt als andere Person, während die Flügel des Spiegels ihr Abbild fragmentieren und vervielfachen.
Daraufhin wird die schäbige Wohnung von Sun-Jaes neuer Unabhängigkeit zu einem Ort der Verwandlung: Haare schneiden, Säubern und Zähmen, das Einrichten eines feminisierten Plätzchens. Sogar in dieser Reduktion ihres bürgerlichen Lebens demonstriert eine enorme Auslage von Schuhen, wie Sun-Jae ihre größte persönliche Bedeutung in diese Objekte investiert. Sie nehmen einen zentralen Platz in ihrer Wohnung ein, einen mit Kerzen erleuchteten Schrein. An ihren Füßen sehen wir jedoch kein anderes Paar als die roten Schuhe, was darauf schließen lässt, dass ihre inneren Facetten eigentlich statisch sind und einer repressiven Abschottung unterliegen. Gläserne Regale verstauen all ihre anderen Identitäten, genauso wie einst Schneewittchen leblos in einem gläsernen Sarg aufbewahrt wurde.
Sun-Jaes weniger attraktive Freundin Mi-Hee bringt einige unangenehme Einsichten über sie zum Ausdruck und stichelt über „Selbstbewusstsein, das dir schaden wird“ und die Dinge, die sie will, wie „Geld … und schicke Schuhe“. Die ungeladen in der Wohnung auftauchende Mi-Hee kommentiert, dass Sun-Jae trotz ihrer Niederlage als Ehefrau mit „ihrem Hobby weitermacht“ und Schuhe sammelt, wobei sie deren psychologische Bedeutung für ihre Freundin verharmlost. Das Verbrechen, für das Mi-Hee später von den Schuhen bestraft wird, ist vielleicht ihre Ablehnung der Art und Weise, mit der ihre Freundin sich selbst betrachtet.
Blicke können in diesem Film, in dem fast jede Szene um Licht, Sehen und Reflexionen kreist, tatsächlich töten. Das anorganische Stadtbild besteht nur aus Glas und gewundenem Metall, leeren Marmorhallen und glimmenden Korridoren. Sun-Jae und Mi-Hee sind beide Augenärztinnen. Bei der Einrichtung ihrer neuen Klinik lernt Sun-Jae den Innendesigner (und das Objekt der Begierde) In-Chul kennen, einen dem Visuellen verschriebenen Mann, der ihr ein riesiges Augen-Logo entwirft. Die zahlreichen Spiegel des Films werden von den Frauen genutzt, um ihre Doppelgänger-Identitäten zu betrachten, oder ihre Spiegelbilder in der Eitelkeit der Oberflächen nach Identität abzusuchen. Das Erblicken der roten Schuhe befeuert ein sofortiges Verlangen, insbesondere wenn sie sich im Besitz einer anderen befinden. Unerwartet erhaschte Blicke auf sexuellen Verrat spornen zu mörderischen Taten an. Flackernde Lichter sind Vorboten der Sehen und Blindheit kontrollierenden geisterhaften Anwesenheit. Eine Glühbirne zerbirst in Sun-Jaes Auge und beschädigt ihre bereits von Albträumen heimgesuchte Sehkraft. Können wir ihrer Wahrnehmung und ihrem Zeitgefühl Glauben schenken? Wenn das Licht ausgeht oder Nebel aufzieht, wird die Dunkelheit von Bedeutung. Jetzt können auch die Charaktere nicht sehen, was sie tun. Der Verlust eines Auges oder der Sehkraft ist unter den Opfern der roten Schuhe geläufig. Das gesamte Motiv beschwört magische Theaterräume, in denen eine kontrollierte Beleuchtung die Wahrnehmung des Publikums manipuliert.
Ich interpretiere Andersens Erzählung als tief in seiner eigenen Psychopathologie verwurzelt; sein narratives Symbol der roten Schuhe ist mit den inneren Erfahrungen und emotionalen Strukturen der Trägerin verbunden.6 Sowohl das Innenleben von Powells und Pressburgers Vicky als auch von Yong-gyun Kims Sun-Jae wird durch Kameraeinstellungen, Schnitte sowie die Verwischung der Realität und der Sichtweise des Zuschauers übermittelt. Bunhongsin lässt äußere Handlungen der Geister mit dem inneren Drang des Unbewussten verschmelzen und schafft so eine dualistische Erklärung für die erzählten Ereignisse. Die Psychologie ist mit Sicherheit freudianisch. Die Ausweitung der analytischen Kategorisierung des Schuhs als Symbol für die weiblichen Genitalien führt zu einer überraschend feministischen Lesart der weiblichen Leidenschaft für Schuhe: die Möglichkeit, eine völlig autarke sexuelle Beziehung zu schaffen, in der die Frau beide Genderrollen übernimmt. Ihr phallischer Fuß füllt den wartenden Schuh aus; die Lust ist ganz ihrerseits und besteht aus den skopophilen Genüssen, die Füße beim Tragen der Schuhe zu betrachten7: Das erste Mädchen, das die roten Schuhe anprobiert, schließt die Augen und atmet aus, als es sich auf seine inneren Reaktionen konzentriert. Im Gegensatz zu einem Orgasmus erfolgen die Empfindungen augenblicklich, garantiert und können mühelos wiederholt werden.
Die den Schuhen von der Psychologie zugeschriebene Macht steht in Zusammenhang mit ihrer Beschaffenheit als Behältnis, das weibliche Verlangen nach Schuhen entspricht ihrer (Selbst)Einhegung. Ähnlich wie beim ebenso fetischisierten Korsett besteht eine kaum wahrnehmbare Schnittstelle zwischen einem den Körper formenden und einem von ihm geformt werdenden Objekt. Die Füße formen die materielle Beschaffenheit der Schuhe, um einen Eindruck des abwesenden Trägers und den Geist dieser Person im leeren Inneren zu bewahren. Diese Eigenschaft machten sich früher bereits Baumeister zunutze, indem sie zur Weihung eines Gebäudes anstelle von lebenden Opfergaben Schuhe in den Grundmauern verbargen.8 Im Gegensatz zu weicher Kleidung behalten Schuhe aufgrund ihrer steifen Struktur auch ohne den Fuß ihre Form. Sie warten, wobei sie die emotionale Beziehung, die aus den Projizierungen der Trägerin auf ihre Schuhen entsteht, bewahren und fortführen. Sie erzählen alltägliche oder unfassbare Geschichten über die Eigenschaften und Wünsche ihrer Besitzer, unabhängig von den körperregulierenden Trageprozessen.9 Der Schuhdesigner Manolo Blahník weiß dies nur zu gut. Er benennt jeden Entwurf nach einer evozierten imaginären Frau. Dank der Kraft dieses magischen Narrativs gehören die fantastischen Identitäten seiner Schuhe zu den weltweit begehrtesten. Madonna wurde mit den berühmten Worten zitiert, dass Blahníks Schuhe „besser als Sex“ seien und ihre Wirkung „länger andauern“10 würde und untermauert damit das Konzept des privaten und individuellen Vergnügens.
Die Frau in den roten Schuhen ist überlebensgroß. Sie ist verlockend, mysteriös, selbstbewusst; ihre Emotionen richten sich nach ihrer Kleidung. Als Sun-Jae ihre gestohlenen roten Schuhe zurückfordert, fragt eine Make-up und Taschen voller Designerware tragende Mi-Hee: „Weißt du, wie toll ich mich jetzt fühle?“ Sun-Jae weiß es: In der Nacht zuvor nutzte sie die Energie der Schuhe aus, um den Innendesigner mit dem Selbstvertrauen eines Vamps zu verführen und ist davon besessen, dieses Gefühl für sich zu behalten. Aber diese Frau ist so unkörperlich wie die Seiten eines Magazins, ein Katalog statischer, unaufhaltsam vorüberziehender Identitäten. Im wahren Leben ist es unmöglich, eine Modenschau oder konstruierten Glamour aufrechtzuerhalten. Die Idee der Frau in den roten Schuhen bleibt auf ewig konnotiert, doch unerreichbar. Sie wird die von ihr verwandelte Person letztendlich verzehren.
Bunhongsin stellt die Frage, wie weit man gehen würde, um sexuelle Erfahrungen oder eine begehrenswerte Identität wiederzuerlangen, die im Film mit Hilfe der roten Schuhe von einer anderen Frau „gestohlen“ wurden. Der Tod ist die Vergeltung für dieses urtypische und schwerwiegendste Verbrechen der cineastischen Welt, gänzlich definiert durch die weibliche Übertragung der Entmachtung. Der Feind ist hier stets die „andere“ Frau, wie auch immer sie verkörpert sein mag. Männer existieren nur, um die weiblichen Handlungen und Beziehungen zu katalysieren und sind von geringerer Bedeutung als die roten Schuhe. Sie sind Chiff-
ren, die sowohl von der Bedeutsamkeit als auch von der privaten inneren Intensität des Schuhetragens ausgeschlossen sind.
Die wechselnde Mutter-Tochter-Beziehung zwischen Sun-Jae und Tae-Soo ist von denselben aufmerksamen Spannungen geprägt wie andere, sich fremder Rollen bemächtigende Frauenpaare. Eine frühe Nahaufnahme richtet das Augenmerk auf Tae-Soos kirschrote Spangenschuhe mit einer Zierschleife à la Dorothy Gale. Diese kindische Farbassoziation verleitet den Vater später dazu, Sun-Jae, der die Schuhe gefallen, zu fragen: „Bist du nicht zu alt, um Rot zu mögen? Es steht dir nicht.“ Der Kampf um die roten Schuhe verschärft sich zu einem Wettbewerb um das Überleben von Sun-Jaes alternder Identität. Ist die Tochter eine Replik oder eine Rivalin? Ihre (visionierte) Doppelgängerin ist stark geschminkt und lässt die erwachsene Weiblichkeit erkennen, die sich eines Tages auf ihrem blassen Gesicht niederschlagen wird. Diese Version übt eine Faszination aus, die Sun-Jae in eine Welt der Halluzinationen führt. Auch Tae-Soo ist fasziniert, als sie mit dem Make-up ihrer Mutter spielt und die roten Schuhe begehrt, um ihr zukünftiges Selbst zu üben. Sie ist Sun-Jae in Wartestellung, so schnell heranwachsend, um ihren Platz einzunehmen, dass ihre Mutter bereits versuchte, Tae-Soos vorrangige Stellung in der Zuneigung ihres Vaters zu zerstören. Ganz gleich, wie verzweifelt sie in der letzten Szene den Geist mit „Nimm mich an ihrer Stelle“ anruft, stehen Sun-Jaes mütterliche Ängste im Konflikt mit ihrer Eifersucht auf Tae-Soo. Sieht man das blutrote Nachthemd des Mädchens als Verweis auf die Ikonografie von Nicolas Roegs Film Wenn die Gondeln Trauer tragen (1973), unterstreicht es die Bedrohung der Mutter durch die kleine Tochterfigur als die „Andere“.
Es ist jedoch auch möglich, dass Tae-Soo spürt, wie sie sich die roten Schuhe zunutze machen und ihre Mutter durch ihre obsessive Umklammerung der Schuhe beschützen kann. Entscheidend ist ihre Liebe zum Tanzen. Oki verwendete die Schuhe einst, um Schönheit zu schaffen, die Energie der Schuhe zu kontrollieren, körperliche und seelische Freuden in einer befreiten expressiven Identität als Tänzerin zu vereinen. Keiko versucht, ihre Fähigkeiten zu stehlen und verliert dabei alles. Die roten Schuhe in ihrer eigentlichen Bestimmung, dem Tanzen, zu verwenden – wie auch Tae-Soo es tut – ist gleichbedeutend mit der Erlangung von Selbstbeherrschung. Jedoch mit böswilliger Absicht getragen, nehmen sie das Ich für sich ein und leiten körperliche Kreativität zu zerstörerischen Zwecken um.
Kritiker des Films von 1948 störten sich an dem „dunklen Märchen“. Die Ironie wird vollkommen, als Sun-Jae ihrer Tochter verspricht, ihr ein Märchen vorzulesen, damit sie „keine unheimlichen Träume“ bekäme. Doch dieses Märchen ist ein unheimlicher Traum, und der J/K-Horror des 21. Jahrhunderts will dieser Dunkelheit entgegentreten. Bei seiner Recherche befragte Heckroth mehrere Kinder: „Was wollt ihr am liebsten beim Ballett sehen?“, woraufhin sechs antworteten: „Wenn sie ihr die Füße abschneiden.“11 – Ein blutdürstiger Wunsch, der nach sechzig Jahren durch die radikale Fokussierung auf die visuelle Darstellung dieses Aktes erfüllt wird.
Von den Rezensenten wurde die Anzahl der in Bunhongsin verwendeten J/K-Horror-Klischees mit gemischten Reaktionen aufgenommen: Ein weiblicher, weiß gekleideter Geist mit hängendem Kopf, eine einsame Frau in einer fremden Wohnung, ein verfluchtes Objekt, feuchtkalter Spuk. Jeder Verweis in Bunhongsin auf den Ozean kollektiver moderner Symbolik bildet jedoch eine über jedes Klischee erhabene Intertextualität. Wenn der Film die Folklore des 20. Jahrhunderts ist, um Powell zu zitieren12, dann gehören wiederkehrende Symbole zu den notwendigen Merkmalen von Volkstum und Märchen.13 Der Erfolg von Bunhongsin liegt in den eleganten Verbeugungen vor den etablierten westlichen Konnotationen des Symbols der roten Schuhe begründet.
Die Andersensche Metapher der roten Schuhe bezieht sich in Bunhongsin auf den tödlichen Kampf zwischen dem realen und dem potentiellen Leben; zwischen dem Selbst und dem anderen Selbst, ein selbstzerstörerisches Zusammentreffen der Gegensätze. Die begehrenswerte Doppelgängerin sucht die heutige Frau heim, verlockt sie mit Visionen fantasierender Verwandlung. Die roten Schuhe repräsentieren die neue Identität. Die roten Schuhe zu entwenden, ist, wie die Versorgungsschnur der weiblichen Persönlichkeit zu durchtrennen, da ihre verletzliche Identität ohne eine derartige Anerkennung kollabieren würde. Es ist wie der Diebstahl eines Traums, mit all der tödlichen Wut, zu der ein solch intimer und kostbarer Raub animiert. Und wenn ein Paar Schuhe die Psyche/das Ich repräsentiert, was bedeutet es erst, wenn dieses Paar getrennt wird, wie es mit den Doppelgängern der roten Schuhe – den schwarzen Stilettos – geschieht?
Die privilegierte Welt des Horrorfilms ermöglicht die Erforschung der in einem Paar roter Schuhe implizierten, leidenschaftlichen Extreme über die Grenzen des Mainstreams hinweg und ist in der Lage, die Herangehensweisen von Hans Christian Andersen und Powell/Pressburger zu übertreffen. Die drei Werke bilden eine harmonische, intertextuelle Meta-Triade, die von Bunhongsins Semiotik des 21. Jahrhunderts und der Bereitschaft, dem dunklen Inneren des weiblichen Besitzes entgegenzutreten, noch vertieft wird. Die polysemischen roten Schuhe tanzen durch mehrdeutige, von Geistern erleuchtete Gefilde aus Inszenierung, Begierde und Eifersucht, in denen Verbrecher und Opfer sich gegenseitig heimsuchen – spiegelnah.



Im Original in: Marketa Uhlirova, ed. If Looks Could Kill: Cinema’s Images of Fashion, Crime and Violence, Koenig Books and Fashion in Film Festival, London, 2008.

Aus dem Englischen von Filip Jirouš.


1 Gamman, Lorraine: Self Fashioning, Gender Display and Sexy Girl Shoes: What’s at Stake – Female Fetishism or Narcissism? In: Benstock, S. and Ferriss, S. (Eds.): Footnotes: On Shoes. New Brunswick: Rutgers University Press, 2001, S. 93-115.
2 Zahlreiche Kritiker merkten an, dass diese „roten“ Schuhe eigentlich knallrosa seien. Doch ist dies nur ein scheinbarer Widerspruch, der in den unterschiedlichen semantischen und kulturellen Kontexten verwurzelt ist. Die koreanische Silbe für „Pink“, beispielsweise für „Mohnblume“, „Rotlichtbezirk“ oder „Orange Pekoe“, hat ein rötlicheres Anwendungsspektrum als das englische. Eine ähnliche Mehrdeutigkeit traf früher auch auf das englische Purple zu, das historisch einen Farbbereich von Violett bis zu purem Rot bezeichnete. (Weiterführende Literatur: Sandberg, Gösta : The Red Dyes: Cochineal, Madder and Murex Purple. Asheville, NC: Lark Books, 1997) Doch lassen die rosaroten Bunhongsin genügend Blut fließen, um ihnen das fehlende Rot zu verleihen. Im Audiokommentar erwähnt der Regisseur übrigens, dass der Rosaton in der Filmversion wärmer wirkte und durch das Überspielen auf DVD seinen ursprünglichen Farbton verloren hat.
3 Andersen, Hans Christian: The Red Shoes. A Treasury of Hans Christian Andersen. New York: Barnes and Noble, 1993, S. 231-36.
4 Gibbon, Monk: The Red Shoes Ballet. London: Saturn Press, 1948, S. 54.
5 Andersen, Hans Christian, Anmerkung Nr. 3, S. 231.
6 Davidson, Hilary: Sex and Sin: the Magic of Red Shoes. In: McNeil, P. and Riello, G.: Shoes: A History from Sneakers to Sandals. London: Berg, 2006, S. 272-89.
7 Freud, Sigmund: Three Essays on the Theory of Sexuality. London: Basic Books, 1998, Bd. 1, S. 21
8 Swann, June: Shoes Concealed in Buildings. In: Costume, 1996, Vol. 30, S. 56-69.
9 Für eine Diskussion der weiblichen Selbstkategorisierung durch emotionale Investitionen in Kleidung, siehe Banim, M. and Guy, A.: Dis/continued Selves: Why Do Women Keep Clothes They No Longer Wear? In: Guy, A., Green, E. and Banim, M.: Through the Wardrobe. Women’s Relationships with Their Clothes. Oxford: Berg, 2001, S. 203-19.
10 Manolo Blahník Drawings. London: Thames and Hudson, 2003, S. 82.
11 Gibbon, Monk, Anmerkung Nr. 4, S. 53.
12 Powell, Michael: A Life in Movies: An Autobiography. London: Faber and Faber, 2000, S. 664.
13 Uther, Hans-Jörg: The Types of International Folktales: A Classification and Bibliography Based on the System of Antti Aarne and Stith Thompson. Vols.1-3. FF Communications No. 284-86. Helsinki: Academia Scientiarum Fennica, 2004.




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