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Tomáš Džadoň:   Der Wille zur Tradition und die Bilder der Nostalgie
Zeitschrift Umělec
Jahrgang 2010, 1
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Tomáš Džadoň: Der Wille zur Tradition und die Bilder der Nostalgie

Zeitschrift Umělec 2010/1

01.01.2010

Palo Fabuš | profil | en cs de

Es ist ein nicht mehr zu übersehendes Paradox von heute, dass das Verhältnis zur Vergangenheit mit Begriffen wie „Desinteresse“, „Oberflächlichkeit“ und „Verlust“ in Zusammenhang gebracht wird und wir trotzdem mehr als je zuvor von Bildern der vergangenen Zeiten umgeben sind. Wir leben angeblich von einem Tag zum nächsten, ohne tieferes Interesse an der Vergangenheit sowie der Zukunft. Und trotzdem kann nicht bestritten werden, dass wir in der heutigen Atmosphäre ohne eindeutige Richtung in der reichen Gesellschaft viele Relikte, Artefakte sowie lebendige Bedeutungen finden, die unsere Generation von den früheren übernommen hat. Es reicht aus, wenn wir uns aufmerksam umsehen, nach Sachen, Symbolen und Ideen: Wir leben die Geschichte viel stärker, als wir uns selbst eingestehen. Die Suche nach dem „Neuen“ kann die Blindheit dieser Tatsache gegenüber erklären, jedoch nicht rechtfertigen. Die Widersprüche und Hindernisse, die uns von der Geschichte in den Weg gelegt werden, bieten sich eher zur Umbewertung an. Und selbst Dinge, die unangenehme Assoziationen zu ihrer Epoche wecken, sollten uns nicht aufhalten, wenn wir das Morgen zumindest ein wenig ernster nehmen wollen.
Ein unverschleierter Blick auf die Vergangenheit, aber vor allem auch das Verstehen der Vergangenheit als etwas, was in unserer Welt überdauert, führt Tomáš Džadoň dazu, nicht verbrannte Holzstücke aus Asche herauszuziehen und uns diese wohlbedacht vor die Füße zu legen. Dabei ist es egal, ob wir gehofft hatten, das Holz würde zu Asche werden oder nicht.
Der in Prag lebende slowakische Künstler, dessen Werke vom Grafikbereich beeinflusst sind, artikuliert sich gewandt über Installationen im Raum. An diesen arbeitet er intensiv und wählt bevorzugt Elemente wie Speck, Rauchfass, dem Drevenice, einem traditionellen slowakischen Holzhaus, oder dem Panelák, einem vorgefertigten, uniformen Siedlungshaus aus der sozialistischen Ära. Bei der Verwendung von so einfach lesbaren Elementen der lokalen Kultur sind nur zwei Wirkungsweisen möglich: billiger Kitsch – oder das Gegenteil – mutige Konfrontation mit der Nostalgie, die Christopher Lasch treffend als die Abdikation des Gedächtnisses bezeichnet hat. Der Finalist des Oskar Čepan Preises sowie des Jindřich Chalupecký Preises stellt den Zuschauer vor die Frage, wie er sich mit seiner eigenen Vergangenheit oder mit der, die ihm durch die Kultur seiner Vorfahren übergeben worden ist, auseinandersetzen soll. Es spielt keine Rolle, ob der Zuschauer angesichts der Themen Džadoňs in Nostalgie versinkt oder nicht, in jedem Fall werden sie Spuren in ihm hinterlassen.

Lebendig begrabene Vergangenheit
Nostalgie finden wir heute überall. Sie stellt eine der größten Motivationen des Tourismus dar. Ihrer emotionalen „Anziehungskraft“ haben sich auch die Gurus der Werbebranche bedient. Und das betrifft nicht nur ältere Leute. Nostalgie und „Retro“-Kultur sind auch Teenagern nicht fremd, die einen rapiden Wandel der Kultur im Zeitraum weniger Jahren erleben. Ihren „Tribut“ verlangt die Nostalgie jedoch besonders dort, wo sich kulturelle oder nationale Identität formt. Sie herrscht in der Kinematografie und Literatur, und idealisiert nicht nur die politischen Umwälzungen in Osteuropa während der vergangenen zwanzig Jahre, sondern auch die Geschichte der Kolonialmächte. Diese Umwälzungen sind gekennzeichnet von einem unverzeihlichen Schließen der Augen vor der polistischen wie sozialen Verfolgung, unter der die Länder zu leiden hatten. Einer idealisierten Kolonialgeschichte liegt ein verklärter Blick auf die Großmacht zugrunde, was den Niedergang der lokalen ureigenen Kultur angeht, die unwiderruflich von der Kolonisierung betroffen war.1
So natürlich uns die Nostalgie auch erscheinen mag, handelt es sich um ein modernes Phänomen, das mit der Globalisierung, der geografischen Mobilität und dem steigenden Tempo der Veränderungen zusammenhängt. Als ein pathologisches Heimwehsymptom wurde sie zum ersten Mal bei schweizerischen Soldaten weit von der Heimat beschrieben (lateinisch nostos – Rückkehr nach Hause, algos – Schmerz, Leiden), und zwar eher im Zusammenhang mit körperlichen als mentalen Beschwerden. Sich zu weit von zu Hause zu entfernen, bedeutete möglicherweise auch den Tod.2 Erst im 18. und 19. Jahrhundert, als die weitreichenden Veränderungen in der Welt unter dem Einfluss moderner Prozesse nicht mehr zu übersehen waren, dringt die Nostalgie in die breitere kulturelle Imagination ein. Bis dahin bedeutete Nostalgie den räumlichen Unterschied zwischen Stadt (Verfremdung) und Land (Authentizität). Nostalgie als ein zeitlicher Bezug – also zur Vergangenheit – taucht erst später auf. Bryan Turner ist sogar der Meinung, dass die Soziologie als solche in den letzten Jahrzehnten des 19. und zu Anfang des 20. Jahrhunderts unbewusst mit dem von Nostalgie strukturierten Diskurs verbunden wurde.3 Spätere soziologische Selbstreflexionen erkennen die Hauptsymptome der Nostalgie als ein Gefühl des historischen Niedergangs, ein Gefühl des Verlustes persönlicher Freiheit und Autonomie, der Einfachheit, Authentizität und Gefühlsspontanität.4
Mit der Nostalgie beschäftigte sich Christopher Lasch ausführlich in seiner Analyse der Idee des Fortschritts.5 Obwohl es sich auf den ersten Blick um gegensätzliche Phänomene handelt, stellt seiner Meinung nach der Glaube an den Fortschritt einen ideologischen Zwilling der Nostalgie dar. Die optimistische Vorstellung von ständiger Verbesserung der Welt sieht den Veränderungsfaktor im Bereich von geheimnisvollen und rationell nicht beeinflussbaren sozialen Kräften, wodurch sie die persönliche Verantwortung schwächt und als aktives Engagement ausschließt. Ebenso wie Nostalgie verhindert auch diese Idee eine intelligente Nutzung der Vergangenheit. Die Barriere, die die Vergangenheit von der Gegenwart trennt, ist die Erfahrung der Desillusion. In dieser Hinsicht wird die Beziehung der Vergangenheit zur Gegenwart vor allem vom Kontrast zwischen Einfachheit und Kompliziertheit bestimmt. Deshalb findet die Nostalgie ihre reinste Abbildung in der ländlichen idylle mit ihren einfachen Freuden. Der Charme dieser Idylle liegt dann nicht in der genauen Beschreibung des Landlebens, sondern im Traum von kindlicher Einfachheit und Sicherheit.6 „Die Nostalgie beschwört die Vergangenheit nur herauf, um sie lebendig zu begraben“, sagt Lasch. „Mit dem Glauben an den Fortschritt teilt sie die Eifrigkeit, mit der sie die Vergangenheit für tot erklärt und den Einfluss der Vergangenheit über die Zukunft bestreitet.“

Kaninchenställe
Dieser theoretische Exkurs wäre nicht notwendig, wenn Džadoňs Arbeiten nicht zu der oberflächlichen Interpretation verführen würden, aus ihnen spräche die Sehnsucht des Autors nach verloren gegangener Vergangenheit. Doch seine Kunstwerke haben mehr zu bieten. Osteuropa kennt bereits den Begriff Ostalgie, der wie die Dichotomiepaare Land/Stadt und traditionell/modern die Erfahrung mit dem totalitären Regime degeneriert und unverzerrte Konfrontierung mit dem historischen Gedächtnis verhindert. 
Es ist nicht verwunderlich, dass für Džadoň, wie für viele andere Tschechen und Slowaken auch, ein Panelák das Symbol des früheren Regimes ist. Die geistlose und an Qualität mangelnde Architektur der tschechischen Siedlungen, die in den fünfziger bis neunziger Jahren überall in der Republik gebaut wurden, ist Gegenstand von Witzen und Verachtung geworden. Bis heute lebt jedoch in den tschechischen Plattenbausiedlungen, die Václav Havel als „Kaninchenställe“ bezeichnet hat, ein Drittel der Bevölkerung. Mit der Rekonstruktion dieser Wohnungen beschäftigt sich sogar eine spezialisierte Zeitschrift. Ähnliche Architektur finden wir nur in den typischen deutschen Plattenbausiedlungen oder im Wohnbauprojekt Khrushchyovka in Russland. Eine gewisse Verwandtheit besteht auch mit dem unrühmlichen amerikanischen Projekt Pruitt-Igoe des Architekten Minoru Yamasaki (World Trade Center) aus den fünfziger Jahren. Die Siedlung wurde nach knapp zwanzig Jahren infolge von katastrophalen sozialen Bedingungen abgerissen.
Die Paneláky als nicht zu übersehendes Überbleibsel des früheren Regimes sind zu einem selbstverständlichen Bestandteil der lokalen Kultur geworden. Für die heutige mittlere und jüngere Generation, die in diesen Häusern aufgewachsen ist oder auch weiterhin in ihnen lebt, stellt das typisierte Wohnen eine wichtige formierende Erfahrung dar. Genau dies motiviert Džadoň dazu, das Panelák aus der Dunkelheit der Selbstverständlichkeit und Nostalgie ans Licht zu ziehen. Die Kindheit, die er in „seinem“ Panelák in Poprad mit Ausblick auf das Tatra-Gebirge verbracht hat, ist für ihn zu einem starken schöpferischen Impuls für eine Serie von Werken geworden, die dieses Thema im durchdachten Kontrast mit der Volksarchitektur behandelt.
Egal, ob es sich um die Installation Die Siedlung Ždiar (2008) handelt, konzipiert als Modell einer Panelák-Siedlung in der Hülle von Drevenice, oder um das nicht realisierte Monument der Volksarchitektur (2006), das der Künstler als Panelák, „gekrönt“ von drei Drevenice vorschlug, oder um YTONG piece (2007), welches die Vorderseiten der Drevenice unter Verwendung von modernen Materialien repliziert – hier funktioniert die traditionelle Architektur nicht als Spiegel der Vergangenheit, sondern als ihr Schlüssel. Ein Schlüssel, dessen Funktion, ähnlich wie bei der ländlichen Idylle in der Poesie, nicht die exakte historische Aufzeichnung, sondern eine Metapher des Verlustes ist. Der Verlustbegriff wird vermutlich für immer vor allem mit dem Landleben in Verbindung gebracht. Umso interessanter wird es, wenn Džadoň das Symbol des Drevenice in Verbindung mit einem so problembehafteten Phänomen wie dem Panelák bringt. Es bleibt dem Zuschauer überlassen, ob er an „Verlust“ mit einem Ausrufe- oder einem Fragezeichen denkt.
Bereits der Name des imposanten, vier Meter hohen Objekts Ist dies eine Attraktion oder fällt es herunter (2009) deutet eine weitere Interpretationsmöglichkeit des Panelák in der Geschichte an. Wenn das geneigte Panelák Nostalgie hervorruft, handelt es sich nur um die Antwort des Zuschauers auf die Frage des Künstlers? Can‘t Undo (2008), oder ein Panelák, „eingetaucht“ in einen Schlossgraben oder der demaskierte Bau Panelák? (2009) sind nicht nur Variationen des Themas, sondern unvermeidliche Outputs von komplizierten Erinnerungen, zu denen wir lieber nicht mehr zurückkehren würden. Džadoň versucht auf diese Weise, der Bedrohung der echten Vergangenheit vorzubeugen, die sich unter der romantischen Schicht verbirgt und auf die Lasch hingewiesen hat. Die Botschaft wird umso dringlicher, je stärker die widersprüchliche Gefühle sind, die die neben traditio-
nelle Häuser aufgezogene sozialistische Architektur hervorruft.
Als Džadoň in seiner Diplomarbeit Superflat (2007) die Wurzeln der Tradition als bloße Simulation entmystifizierte, ging es ihm nicht um die Verspottung der Entfremdung vom Ursprünglichen in der lokalen Kultur, sondern um die Manifestation der unvermeidlichen Künstlichkeit jeglicher Beziehung zur Vergangenheit. Wenn wir von der Frontseite zur Rückseite eines Drevenice gehen und sich diese hinter uns dreht, so dass wir ständig „draußen“ bleiben, kann die Frage nicht ungestellt bleiben, ob das vielgehasste Panelák gegenüber der traditionellen Volksarchitektur wirklich minderwertiger ist. Džadoň macht ohne Ironie darauf aufmerksam, dass wir uns früher oder später damit abfinden müssen, dass der Status der Tradition auch dem Panelák zusteht. Das Panelák ist das neue Drevenice.
Lasch sieht die Entfremdung als einen natürlichen Bestandteil der menschlichen Erfahrung. Ähnlich, wie es heute mit der Natur ist, wird auch Tradition für ein Zeichen von Originalität, Unversehrtheit und Einfachheit gehalten, obwohl es sich hier um ein reines Sozialkonstrukt handelt. Jeder von uns versucht, sich in seinem Inneren das ideale Bild des Heimes, erfüllt von menschlicher Wärme und Sicherheit, zu erhalten. Wenn dieses Bild mit einer kontroversen Vergangenheit in Verbindung gebracht wird, wird Nostalgie begreiflich – doch ist dies kein tragfähiger Schutzmechanismus.
Übergänge zur Authentizität
Dass vor allem die Gegenwart im Zentrum von Džadoňs Interesse steht, bestätigt auch die Serie von Werken, die sich mit dem Übergang, das heißt mit der Verwandlung der Zukunft in die Vergangenheit, beschäftigen. In den Werken Tor (2008) und Portal (2009) schafft er Repliken eines Panelák-Hauseingangs, eingerahmt mit den typischen Rotziegeln. Im Falle des Tores multipliziert er diese Einrahmung in der Art eines Rückzugsportals, wodurch er Banalität in die Sakralsphäre überträgt. Eine ähnliche Multiplizierung verwendet er auch beim Niemandsland (2009), wo er eine gewöhnliche Türzarge vermehrfacht, um den Übergang zu verlängern und zu betonen. „Der Eingang betont eine bestimmte Zugangszone. In der Volksarchitektur war der Eingang sehr symbolisch: eine hohe Schwelle, die zu überschreiten war, man musste den Kopf beugen, sich vor dem Eingang niederbeugen, Demut zeigen. Der Eingang ist also sehr wichtig, denn er steht für Trennung und Übergang“, sagt der Künstler.7
Einen wichtigen Aspekt von Džadoňs Werken stellt die dynamische Kombination des persönlichen und kollektiven Gedächtnisses dar. Es sind Erinnerungen daran, was der Autor selbst erlebt hat und was ihm durch seine Erziehung übergeben worden ist. In seinen Objekten und Installationen trifft sich der Wille zur Tradition mit dem Zwang zu vergessen, die degenerierende Sehnsucht nach der idealisierten Vergangenheit mit der Faktizität der Gegenwart. Das Verlangen nach Sicherheit und Geborgenheit, der Wunsch, in den Mutterleib zurückzukehren, schlägt sich, psychoanalytisch gesehen, am stärksten im Bild des Zuhauses nieder. In seinen jüngsten Werken stellt Džadoňs das Panelák direkt ins Epizentrum dieses Gleichnisses.
Die Anwendung der Prinzipien der Euklidschen Geometrie in seinen aktuellen Arbeiten – formale Präzision, Reinheit, klare Konturen und Absolutheit – lassen seine Bemühungen, Authentizität in der Gegenwart aufzuspüren und wiederzugeben, umso spannender werden. Sie sind realistischer als die Realität. Sie entziehen sich nicht der Simulation, deren Antwort sie sind. Dadurch enthüllen sie die Welt, wo nichts künstlicher ist als das Bestreiten der Künstlichkeit als Konstante der menschlichen Natur.


1,2 Rosaldo, Renato: Imperialist Nostalgia. In: Representations No.26 (Frühjahr 1989), S. 107-122, .
3,4 Frow, John: Tourism and the Semiotics of Nostalgia. In: October No.57 (1991), S. 123‑151
5 Lasch, Christopher: True and Only Heaven: Progress and Its Critics. London - New York: W. W. Norton & Company, 1991.
6 Kelly, Ursula A.: Learning to Lose: Rurality, Transcience, and Belonging (A Companion to Michael Corbett). In: Journal of Research in Rural Education No.24 (11) 2009.
7 Nekvindová, Terezie: Paneláky jsou naše tradice. Rozhovor s Tomášem Džadoněm. In: Stavba no. 5 (2009), S.12‑16.




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