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Die Entfaltung des Mittleren Ostens: Kristen Alvansons Nonad
Zeitschrift Umělec
Jahrgang 2008, 2
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Die Entfaltung des Mittleren Ostens: Kristen Alvansons Nonad

Zeitschrift Umělec 2008/2

01.02.2008

Robin Mackay | geschichte | en cs de es

Azad Gallery, Teheran, Mai 2008

In seinem Buch über Leibniz von 1998 erklärt der Philosoph Gilles Deleuze die Figur der Falte als eine Möglichkeit, mit der eine Philosophie der Immanenz die Vielfältigkeit des Universums messen könnte. Wenn das Sein nur in einer Stimme spricht, wenn wir keine transzendale Ebene der Organisation einführen, wie kann Unterschied dann erklärt werden? Deleuzes Vorstellung von Falten-in-Falten, das er für das vorherrschende Prinzip im Barock hält, erweitert sich zu labyrinthischen Strukturen, die eine unendliche Komplexität (oder Implexität) einhüllen, ohne irgendeine Form von Transzendenz zu zeitigen. Kristen Alvanson, eine in Iran arbeitende amerikanische Künstlerin, schlägt vor, dass wir den Mittleren Osten in all seiner Obskurität, Unergründlichkeit und Hybridität mit Hilfe eines solchen topologischen Modells interpretieren: als einen Stoff, gefaltet und wiedergefaltet zu einer rätselhaften Oberfläche, wo die einzelnen Elemente unerwartet aufeinanderstoßen und sich in einer paradoxen Art und Weise überlappen. Umgekehrt zeigen ihre neuesten Arbeiten, wie sich die multiplen kulturellen Codes, die in im Mittleren Osten vorherrschen, in den Falten seiner Stoffe manifestieren.
Als Alvanson ihre Ausstellung Nonad in der Teheraner Azad Galerie eröffnete, muss sie darauf vorbereitet gewesen sein, dass ihr Werk als einen weiteren Beitrag in einer bereits abgedroschenen politischen Debatte missdeutet wird. Denn nichts beschreibt die neurotische Natur der Beziehung des Westens zum Mittleren Osten im 21. Jahrhundert (angefangen, sagen wir einmal, mit dem 11. September 2001) besser als jenes Bekleidungsstück, das ein berüchtigtes Gesetz in Frankreich mit dem Begriff “verdächtig religiös” zu verbieten versucht hat. In der Debatte über den Hijab und dem Tschador trifft die Bestätigung des Säkularismus als unverhandelbares Prinzip der Aufklärung auf die liberale Verpflichtung zur Toleranz, und das verworrene Credo multikulturalistischer Ansichten trifft auf die neofeministische Forderung, Frauen des Mittleren Ostens zu befreien – in die alternative Grausamkeit des Konsumerismus. In einem Beitrag zur Kontorverse über das Verbot des Kopftuches an französischen Schulen schlägt der Philosoph Alain Badiou in Le Monde vor, dass die Franzosen ihre Kinder lieber vor den viel schädlicheren semiotischen Auslösern sozialer Antagonismen, den ostentativ zu Schau gestellten globalen Konsummarken, beschützen sollen. Der Westen jedoch ist glücklich abhängig von jenen Codes der abstrakten Begierde und findet immer noch etwas Beunruhigendes und Verstörendes an den in stillen, schwarzen Hüllen uniformierten Frauen, deren Signifikanz und deren Beziehung zum individuellen und kollektiven Begehren der Trägerin als schlechthin obskur erscheint. Die widersprüchlichen Loyalitäten des Feminismus – schaffen die dunklen Falten einen beschützten, autonomen Raum, deren leere Oberfläche den männlichen Blick verwirrt, oder sind sie wandelnde Gefängniszellen, unheimliche Instrumente des Islamofaschismus? – bestätigen den wesentlichen Punkt: Der Westen kann die islamische Bekleidung nur als Zeichen der Abwesenheit, oder als Abwesenheit jeglicher Zeichen interpretieren. Alvansons Projekt hinterfragt diese Tendenz, indem sie sich mit den oft übersehenen Aspekten der Materialität und der Herstellung befasst. Sie entdeckt, dass dieses angeblich so traditionelle Gewand mehr in sich birgt, als sein staatlich bestätigter Ruf vielleicht vermuten lässt. Alvanson hat das Bekleidungsstück umgearbeitet und macht so die verleugnete Komplexität in einer Arbeit sichtbar, das sich zwischen der Materialität der Kleidung und dessen kulturellen Formationen entfaltet.
Unweigerlich haben einige Besucher von Nonad Alavons Umgang mit dem Tschador (der traditionellen weiblichen Bekleidung im Islam – ist üblicherweise schwarz und bedeckt den gesamten Körper) als feministische oder postkoloniale Geste missdeutet. Mit diesem Werk wollte sie aber eine subtilere und aufmerksamere Auseindersetzung mit dem Kleidungsstück provozieren. Avalons Fertigkeit im Umgang mit der Sprache und dem Aufbau dieser Textilien (in den 90ern kreierte sie HOUSE, ein New Yorker Modelabel, das bei PartygängerInnen beliebt war) ermöglicht es ihr, die offensichtlichen Fallen zu vermeiden, mit denen ein Künstler konfrontiert ist, wenn er fremde Kulturen zu erkunden versucht - die falsche Naivität, die eine “persönliche Auseinandersetzung” eines Künstlers darstellt und oft nicht mehr als eine Entschuldigung ist, um Exotismus zu reproduzieren, und andererseits die Gefahr, das Andere zu sehr zu respektieren.
Durch die aktive Auseinandersetzung mit dem Stoff und dem Schnitt des Tschadors und die Vermeidung eines vorkodierten politischen Diskurses oder einer persönlichen Odyssee ermöglicht Alvanson einen neuen Blick auf die sozial-politischen Beziehungen, die im Mittleren Osten herrschen. Eine Verantwortung des Künstlers, sich maßgeblich mit heißen Themen zu befassen, lehnt sie ab, und experimentiert stattdessen mit den Dingen, die ihnen zugrunde liegen.
Die Künstlerin beschreibt die Arbeit als eine Untersuchung der “dreifaltigen” Beziehung von Frauen, Mittlerem Osten und Stoff. Die Hauptkomponente von Nonad besteht aus einer Reihe von Tschadors, die von der Decke hängend eine Art weiche, durchscheinende Architektur erschaffen, durch die der Besucher wandelt. Von ihren Bewohnern befreit, wie Fledermäuse an die Decke drapiert, öffnen sich die Bekleidungsstücke und zeigen die innere, normalerweise bewohnte Seite, die der Westen mit solch großer Unsicherheit betrachtet. Wahrhaftig vergisst man beim Betrachten der Installation, ob man sich noch innerhalb oder schon außerhalb eines Tschadors befindet – man kann auch in der Installation sitzen, so wie viele BesucherInnen der Galerie Azad es tun, die sich hier zum Plaudern treffen, und zwar für die Dauer von Alvansons Ausstellung in einem weitverzweigten Textilkokon. BesucherInnen werden zu Teilnehmenden, umarmt von Stoffen, die als “verdächtig religiös” verdammt wurden, hier aber stattdessen versteckte Möglichkeiten eröffnen.
Die wichtigste dieser versteckten Dimensionen bezieht sich nicht auf die Beziehung zwischen Frau und Islam, sondern auf die zwischen Nomaden und Staat: diese Beziehung betont Alvanson durch ihre Umarbeitung des traditionellen Tschadors.
Unter Shah Reza 1936 verboten, aber zur Zeit der Revolution wiedereingeführt, ist der Standard-Tschador, der vom gegenwärtigen iranischen Regime mit seinem Festhalten an Khomeinis Doktrin bevorzugt wird, aus einfachem schwarzen Stoff. Im Gegensatz dazu zeichnet sich die Bekleidung der Nomaden der Region durch farbenfrohe, gemusterte, mit Pailletten besetzte oder durchsichtige Stoffe aus. In iranischen Städten ist der Basar nach persischer Tradition so etwas wie eine Zwischenzone zwischen diesen beiden Kulturen geblieben, ein Schnittpunkt, an dem sich Frauen beider Kulturen in ihrer Freizeit umsehen und oft stundenlang die angebotenen Stoffe begutachten. Speziell in Shiraz, wo Alvanson mit ihrem Ehemann lebt, ist der Basar ein Ort, an dem die Nomaden und die Sesshaften vorübergehend verschmelzen, um dann wieder ihre eigenen Wege zu gehen. Alvansons Tschadors scheinen diesen Moment der Verschmelzung zu verlängern, indem sie die lebhaften Stoffe der Nomaden verwendet und dem regulären vierteiligen, halbkreisförmigen Schnitt anpasst. Außerdem versucht sie, das verdrehte und gewundene Gewebe der iranischen Kultur selbst greifbar zu machen. Nomaden und Staat schließen einander jedoch nicht aus. Tatsächlich gibt es eine lange Geschichte der gegenseitigen informellen Abhängigkeit, bei dem grundlegender Argwohn oft Wegbereiter für ein gegenseitig vorteilhaftes Verhältnis ist. So sind es z.B. Nomaden, welche die staatlichen Ölförderungskomplexe in den Wüsten bewachen. Moderne iranische Kultur besteht aus einer unentwirrbaren Mischung von nomadischen und islamischen Einflüssen. Die Annahme (des iranischem Staats oder dessen westlichen Kritiker), dass der Tschador aus dieser Symbiose herausgelöst werden und als ein Zeichen religiöser Reinheit dargestellt werden kann, ist daher nichts anderes als ein zeitgenössischer Kunstgriff.
Indem Avalons Arbeit die impliziten (“ein-gefaltenen”) Dimensionen dieser Gesellschaft darlegt, stellt sie auch eine Art spekulative Fiktion dar, die eine Vision einer Mischkultur erschafft, deren Bekleidung die innewohnenden Hybriditäten eher ausdrücken als unterdrücken könnte. Statt also eine orientalisierende Ausstellung über die Fremdartigkeit des Tschador oder der Nomadentracht zu machen, verwendet Alvanson sie für eine direkte Intervention ins sozio-politische Gewebe, in dem der Tschador unvermeidlich eingefügt ist.
Eher rätselhafte Elemente in dieser Intervention sind die Abjad-Diagramme, die Alvanson zusammen mit den Tscha-dors ausstellt. Abjad beruht auf einer historischen Abfolge des arabischen Alphabets, bei der Buchstaben Zahlen entsprechen, es ist somit ein der hebräischen Gematrie ähnliches apokryphes und synkretistisches Zahlensystem. Als beliebte volkstümliche Numerologie, die an der Peripherie der offiziellen Religion überlebt hat, wird Abjad seit Jahrhunderten für Verzauberungen, Verfluchungen, Schutz, Zukunftsprognosen und Koran-Interpretationen verwendet.
Laut Alvanson ist im Okkultismus des Mittleren Ostens die Neun die Zahl “unaufhörlicher Kollektivität”: In Abjad ist diese Zahl das Basiselement, in das alle anderen Zahlen verwandelt werden können, und agiert daher als Brücke zwischen ansonsten unverbundenen Texten. Das Element der “Neun” gibt der Ausstellung ihren Titel (Nonad ist ihr Neologismus aus “neun” und “Nomade”) und wird in der Tschador-Installation reflektiert: die Halbkreise der von Alvanson überarbeiteten Tschadors bestehen aus neun zusammengenähten Stoffteilen, und nicht wie die offiziellen Tschadors aus vier. Die drei äußeren Teile sind aus dem schwarzen Stoff des Staats-Tschador und rahmen die Auswahl der Nomadenstoffe in den übrigen Teilen ein: ironischerweise finden sich die nomadischen Elemente innerhalb des Rahmenwerks und den Grenzen des Staates; gleichzeitig umspannt der Staat eine innere Heterogenität.
In den Abjad-Diagrammen wird das Muster der neun Teile der Tschadors wiederaufgenommen, wiederholt und vervielfältigt, in einer Art Tanz oder einer ähnlichen sozialen Interaktion mit einer Anzahl von wirbelnden und rauschenden, wie von oben gesehenen Gewändern. Die gezeichneten Tschadors sind gefüllt mit Symbolen, die von der Ferne wie arabische Schrift aussehen, sich aber beim Näherkommen in eine Mischung von Arabisch, numerischen Ziffern und Beschwörungsformeln auf Englisch (speed, inside, fire) verwandeln, und die über mehrere Zeichnungen hinweg wiederholt werden. Die Zeichnungen deuten an, dass die Kollektivität der Tschadors nicht die einer strikten und schikanierten Masse ist, sondern sonderbare Verbindungen und Potentiale in sich trägt, und deren wogende, schwarze Wellen verschlüsselte Informationen beinhalten.
Die Zeichnungen sind freie Adaptionen der kunstvollen Verfluchungsdiagramme des Abjad. Alvanson benützt den Schreib-stift wie ihre Schneiderschere, ohne jegliche Gewissensbisse hinsichtlich “Authentizität”. Da Abjad an und für sich schon ein Mischsystem ist, nimmt sie sich ein freies Vorgehen in ihrer modernen Neuinterpretation heraus. Kommt man von diesen mystischen und geladenen Diagrammen zurück, kann man erkennen, wie Alvansons Nomaden-Tschadors selbst als eine Art Diagramm oder politische Karte funktionieren, in der sich die unterschiedlichen Nomadengruppen und der Staat zu eigenartigen Allianzen verbinden.
Die unvermeidlichen Schwierigkeiten, die beim Zusammennähen der verwendeten Materialien auftreten, bedeuten, dass jeder Tschador seine Eigenheiten und “Fehler” besitzt, und betont so die Materialität dieses normalerweise chiffrierten und standardisierten Bekleidungsstückes: Die vorher so ruhige Materialität macht ihre Autorität gegenüber der abstrakten (Uni)form geltend, und wo sich das Schwarz des Staates mit den nomadischen Einflüssen verbindet, erzählen dies auch die Nähte.
Dasselbe gilt auch, sobald ein Tschador getragen wird und sich von einem Standard-Bekleidungstück in eine soziale, lebendige Form verwandelt: der Tschador kann daher nicht auf den leeren, blanken Code der Unterwerfung reduziert werden. Die Künstlerin demonstriert, dass dieses Textilwesen weder Vorhang noch Schild ist, sondern dass es sich lohnt, seine interne Logik gründlich zu untersuchen.
Amirali Ghasemi, einer der Begründer der Roaming Biennial in Teheran, die gegründet wurde, um gegen die Isolation der Islamischen Republik von der internationalen Kunstszene zu kämpfen, hat erklärt, dass in seiner Wanderausstellung die Organisatoren und KünstlerInnen “wie Nomaden” mit Koffern voll Kunstwerken reisen werden, um iranische KünstlerInnen weltweit bekannt zu machen – Alvansons Teilnahme am kommenden Event wäre daher mehr als angemessen.
Aber wie viel eigenartiger und spannender wäre es, wenn der zum politischen Paria und “Schurkenstaat” gewordene Iran, Alvansons neue Arbeitsstätte, zu der Falte der Kunstwelt zurückkehren würde, von der er sich nach Ahmadinedschads Machtübernahme verabschiedet hat, und diese amerikanische Künstlerin zur nächsten Biennale in Venedig senden würde. Alvanson zeigt leidenschaftlich auf, dass der Tschador nicht in den stereotypen politischen “Debatten” verstanden werden kann, die nur der Bestätigung bequemer Dogmen dienen. Alvanson in Vendig - das wäre nur eine weitere überraschende Wendung, die sie selbst in ihrem Werk durch eine engagierte Erkundung der komplexen Räume des Mittleren Ostens suggeriert.






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