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Der Bischkeker KonstruktivismusZeitschrift Umělec 2011/101.01.2011 Boris Chukhovich und Oksana Shalatova | geometrie | en cs de ru |
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Vor fünf Jahren stellte der Kurator der documenta 12, Roger M. Buergel, der Kunstwelt die Frage, ob die Moderne unsere Antike sei, womit er eine Lawine des Widerhalls provozierte. Dabei hatte man das Gefühl, dass für Buergel selbst diese Frage eher eine äußerliche war, zumindest in Bezug zu der in Kassel vorbereiteten Ausstellung. Denn die documenta konzentrierte sich nicht ausschließlich auf einen Dialog von Gegenwart und Moderne, sondern löste darüber hinaus die chronologische Vertikale der Ausstellungsreihen deutlich auf, indem sie mit dem 14. bis 16. Jahrhundert begann. Sie öffnete diese zudem auch auf kulturgeografischer Ebene, indem sie traditionelle Schulen der östlichen Miniatur aufnahm, asiatische und afrikanische Stoffe sowie Artefakte der 50er und 60er Jahre zeigte, die dort hergestellt wurden, wo die Moderne eine schwache oder überhaupt keine Spur hinterlassen hat.
Es ist symptomatisch, dass ein weiterer zeitgenössischer programmatischer Text zum Thema Moderne – Altermodern von Nicolas Bourriaud – ebenso das Gefühl hinterlässt, dass die Wichtigkeit des Themas nicht mit dem grauen Alltag der vorgeschlagenen Lesart übereinstimmt. Bei erneuter Lektüre des Manifestes von Bourriaud, das den Tod des Postmodernismus verkündet, sehen wir im neuausgerufenen Altermodern paradoxerweise eine distinguierte Auswahl an geläufigen postmodernen Fabeln und Charakteristiken. Die triumphale Kreolisierung, das Nomadentum von Subjekten der zeitgenössischen Kultur, die allgegenwärtige Emi-, Immi- und Migration, die Vertreibung, die Sättigung der Zeichen mit assoziativen Sinnen – der direkten Bedeutung zum Nachteil – die Zunahme der Wichtigkeit und der Umlauf von Übersetzungen, Untertiteln und Synchronisierungen: Das alles sind nicht nur Eigenschaften des „toten“ Postmodernismus, sondern Teil seiner Grundpfeiler. Sollte die Hinwendung zum Thema Moderne und das Herbeirufen einer neuen, „anderen Moderne“ mithilfe der Hinzufügung der Vorsilbe „Alter“ nicht mit dem Inhalt des Textes von Bourriaud übereinstimmen, entspricht sie dennoch genau dem Geist des Augenblicks, den wir erleben. Die Atomisierung der Ideen und Zustände der Postmoderne suggeriert praktisch eine nostalgische Sehnsucht nach den „großen Erzählungen“, nach „Bedeutung“, nach dem „Universalen“. Es ist absolut möglich, dass die Welt der Kunst noch nicht bereit ist, über dieses Vorgefühl auf dem Niveau ganzer Programme und theoretischer Plattformen zu sprechen (nicht zufällig hat sich Buergel auf eine Frage beschränkt, und Bourriaud auf eine Seite einsilbigen Textes). Wahrscheinlich erleben wir eine Periode konzeptueller Entwürfe, die sich auf das Unbewusste unserer Wünsche und Absichten fixieren. Der Kürze der theoretischen Formulierungen stellt die Ausstellungspraxis dennoch detaillierte Äußerungen entgegen. Hier nimmt das Streben zur Moderne Gestalt an: unter verschiedenen Umständen, aus unterschiedlichen Gründen und auf unterschiedlichen Kontinenten. Im Frühjar 2010 sind dem Publikum auf verschiedenen Kontinenten insbesondere zwei Ausstellungen zu ein- und demselben Thema präsentiert worden. In Nordamerika hat das Montrealer Museum für Zeitgenössische Kunst die Ausstellung Yesterday’s Tomorrows gezeigt und die Frage gestellt, „warum so viele zeitgenössische Künstler in den letzten Jahren zu den Formen, Ideen und Bestrebungen der modernen Architektur und des modernen Designs zurückgekehrt sind“. In der Ausstellung präsentierten zehn internationale Künstler je eine Reflexion zu einem bestimmten Thema, indem sie ein emblematisches Werk oder einen Künstler der Moderne als Vorwand auswählten. Eine in ihren Aufgaben irgendwie verwandte Ausstellung war bereits einen Monat früher in Bischkek, der Hauptstadt Kirgistans, aufgetaucht. Als Kuratoren dieser Ausstellung möchten wir ein wenig ausführlicher bei ihr verbleiben. In der Realisierungsphase des vielteiligen zentralasiatischen Fotoprojekts STILLS1 fiel uns auf, dass sich viele kirgisische Autoren der plastischen Erfahrung der internationalen Avantgarde des frühen 20. Jahrhunderts zuwandten. Besonders häufig, so schien uns, wurde der „Geo- metrismus“ angewendet – darunter aktiv tätige „dynamische Diagonalen“, Blickwinkel hinter die Fassade, Spiele mit Reflexen, Schatten, Spiegelungen (Natalja Andrianova, Anna Zima, Alla Kivachickaja, Roman Kirichenko, Isken Sydykov), ungegenständliche Linienstudien (Georgij Kolotov) oder die gerippeartigen Kompositionen der Gruppe …Grafija. In der Folge überzeugten wir uns unter anderem davon, dass es ähnliche Arbeiten oft auch außerhalb der Grenzen Kirgistans gibt (Gajsha Madanova, Galim Madanov [Almaty], Vitalij Mordovin [Taschkent]). Zwar bezeichnen wir diese Linie symbolisch als „Bischkeker Konstruktivismus“, doch möchten wir nicht nur ein Substrat dieses einzigartigen Stils zutage fördern. Zu der genannten Strömung kann man unserer Meinung nach sowohl Arbeiten zählen, die einen linearen Energetismus des orthodoxen Konstruktivismus sowie ein Interesse an Beschaffenheiten und Oberflächen aufweisen, das andere Richtungen inspiriert. Dies bezieht sich auch auf die mediale Genealogie: In der Ausstellung waren Werke versammelt, die sich sowohl auf das fotografische Erbe als auch auf weiter entfernte mediale Vorfahren beziehen – zum Beispiel die Malerei oder die Assemblage. Auch wenn in den Fotografien der Bischkeker Autoren ein gewisser integrierter und formalisierender „Geist der Avantgarde“ bemerkbar ist, kann das zeitgenössische Schaffen im Grunde genommen kaum avantgardistisch sein – es bezieht sich nur auf das jeweilige Archiv. In den Arbeiten, die in der Ausstellung vorgestellt werden, erscheint der Mensch nicht selten als Element einer geometrischen Komposition, keineswegs aber als Schräubchen eines welterbauenden Mechanismus (wie einst in den fotografischen Werken der Avantgarde-Klassiker): Zeitgenössische „visuelle Konstruktionen“ können das Spiel urbanistischer Rhythmen illustrieren, vermögen die metaphorische Isolation in steinernen Dschungeln zu verkörpern, Motive der pantheistischen Auflösung in der städtischen Landschaft zu kommentieren oder offene Erfahrungen der Retro-Rekonstruktion darzustellen. Doch die Hauptsache, die den zeitgenössischen Konstruktivismus Zentralasiens vom Konstruktivismus der zwanziger Jahre unterscheidet, ist nicht die ideologische Trockenheit, nicht die Abwesenheit von Losungen, sondern deren Anwesenheit und damit auch die Existenz der konstruktivistischen Mythologie und der ganzen nachfolgenden Erfahrung der sowjetischen Kunst. Durch die konstruktivistischen Kompositionen der Ausstellung scheint die sowjetische Malerei und Kinematografie der 20er und 30er hindurch (Ekaterina Degot spricht vom „sowjetischen Idealismus“), der rauhe Stil der 60er, der in die Vergangenheit gerichtete Geist der Malerei der 70er und sogar der Hohn der sozialistischen Kunst der 80er. So ist der heutige Konstruktivismus, der einmal eine Projektion in die Zukunft war, ein radikal veränderter – markiert durch das kollektive Gedächtnis der sowjetischen Generation. Eine Richtungsänderung des Vektors von der Vergangenheit in die Zukunft ist nicht nur eine Retro-Fantasie, sondern verändert das Referenzfeld der neu entstandenen „neo-konstruktivistischen“ Zeichen qualitativ. Eigentlich geht es hier nicht um die neuen Zeichen. Es sind Zeichen, die durch das Prisma gemachter Erfahrung an den „ursprünglichen Konstruktivismus“ erinnern, Zeichen, die sich nun mit der jeweiligen Biografie, mit Unvollständigkeiten, Fehlern, Ironie, Müdigkeit, Sehnsucht, Melancholie und Absurdität füllen. Alle diese Eigenschaften können sich mit jeweils anderem Bezug zu ihren avantgardistischen Prototypen ebenso in „unbeschwerte“ Werke verwandeln, in „optimistische“ Offenheit, „sakrale“ Ikonizität oder „strenge“ Formalität. Dabei verlieren sie weder ihre unterschwellige existenzielle Fülle, noch ihren zweiten und dritten Sinn, die den heutigen Konstruktivismus personalisieren – dem reinen Wesen und den allegorischen Dramen der russischen Avantgarde zum Schaden. Im Grunde genommen ist diese umgekehrte Perspektive, deren formales Element einmal als Grundlage für die „neue Kunst“ diente und die ganze anschließende Transformation verzerrte, eine innovative Demarche. Dies gilt nicht nur in Bezug auf die Avantgarde selbst (mit ihren „Zusatzelementen“ und ihren Stufen im Aufstieg zum „Gipfel“ des Absoluten), sondern auch gegenüber den ausgewählten, fakultativen Reminiszenzen der zeitgenössischen Kunst, die Globalität und Systemcharakter prinzipiell meidet. Das heißt, wir treffen auf eine Dekonstruktion, die die Qualitäten der Konstruktion erhält, eine Formalisierung, die nicht in den Diskurs passt, eine Profanisierung, die die Ikone nicht ablehnt, und, letztendlich, auf einen Versuch, die totale Simulation der typischen „zeitgenössischen Kunst“ zu überwinden. Wenn letztere versucht, durch reflexartige Selbstgefälligkeit größer herauszukommen, als sie wirklich ist, bewegt sich der „Bischkeker Konstruktivismus“ objektiv außerhalb der Rahmen, Orte und Rollen, die er für sich in Anspruch zu nehmen versucht. Daher also die Sonderbarkeit und der Magnetismus dieser „Energie“, die „Anstrengung“ und die „Tendenzen“, die gegenüber der Anspannung und den Tendenzen der avantgardistischen Utopie geradezu entgegengesetzte und gleichzeitig verwandte Energien darstellen. Aus dem Russischen von Helena Maier. 1 (www.stills.kz)
01.01.2011
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