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Großangriff auf die großen Meister oder Die östliche Destruktion westlicher Werte
Zeitschrift Umělec
Jahrgang 2010, 1
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Großangriff auf die großen Meister oder Die östliche Destruktion westlicher Werte

Zeitschrift Umělec 2010/1

01.01.2010

Ivan Mečl | en cs de

... Klingt das nicht super? Wir hier im Westen können tolle Sätze formulieren, wenn es um Fortschritt oder Verfall geht.

Dies ist einer meiner ersten Beiträge zum Thema Das Ende des westlichen Konzepts, das ich mir selbst ausgedacht habe. Ich erzähle keinen Blödsinn! Wir machen daraus ein großes Thema, denn alle zittern vor Angst, sich Asche aufs Haupt zu streuen und überhaupt, als ob es hier mit uns bergab ginge. Was wahrscheinlich auch der Fall ist, aber wir sollten es immerhin genießen. Durch Tränen hindurch würden wir die Apokalypse nur verschwommen sehen. Wir sind aber an ein scharfes Bild gewöhnt.

Also, zu dieser östlichen Destruktion der westlichen Wertetyrannei … Da ist mir noch ein Wort dazugestoßen.

Über Plagiate und Fälschungen werden wir gar nicht erst reden. Das ist eigentlich lächerlich. Aber dies hier ist schon eine ernste Angelegenheit. Eine sehr ernste Angelegenheit, denn glücklicherweise ist es zumindest ein großer Angriff auf große Meister. Ein kleiner und peinlicher wäre für diese Meister beschämend.
Es geht nämlich um die Absicht, die alten Meister, unsere Vorbilder und ihre Inspirationsquellen zu zerstören. Als Inspiration dienten unseren Meistern immer große Mythen, große Ideen, große Geschichten, große gei-
stige Meilensteine und revolutionäre Weltereignisse. Und auch Wunder. Nun ja, genau davon haben die im Osten die Nase voll. Sie sagen es nicht direkt und schon gar nicht in einer Sprache, die wir verstehen würden oder verstehen wollten. Nun sage ich ganz selbstverständlich, dass wir sie tatsächlich nicht verstehen wollen. Da ist viel Wahres dran und eine solche Selbstkritik klingt immer gut. Die benutzt man heute sehr oft. Ja, als ich zum Beispiel auf einer chinesischen Kunstmesse in Peking war, wo die naiven westlichen Galeristen teure Stände mieteten und sich freuten, mit einem Haufen Geld aus dem Verkauf von Kunst an reiche Chinesen zurückzukehren, ertönte aus den Lautsprechern auf Chinesisch: „Kauft chinesische Kunst! Die ausländische taugt nichts!“ Und die ausländischen Galeristen lächelten nur, denn sie verstanden ja kein Wort. Sie verkauften nichts, aber sie sagten sich, das nächste Mal bringen sie etwas Ähnliches mit wie die Chinesen. Und wieder verkauften sie nichts. Es ist nämlich egal, was man verkauft und wie es aussieht. Man muss Chinesisch lernen, um an Chinesen zu verkaufen. Oder der Künstler, der aus China zurückkehrte und erzählte: „Hey, ich wurde ganz normal auf die große internationale Ausstellung „Europa-Asien“ eingeladen, und am Tag nach der Eröffnung schrieb der Hauptkurator der Ausstellung – ein Chinese natürlich – in einer Zeitung, dass der asiatische Teil der Messe super sei, während der europäische nichts tauge, wie er bereits vermutet hatte. Er dachte, dass wir das nicht erfahren, weil es eine chinesische Zeitschrift war, und sowieso hatten sie allen Teilnehmern aus Europa die Flugtickets so gekauft, dass sie gleich am nächsten Tag wieder verschwanden. Ich hatte das aber schon vorher geändert, um noch eine Woche in Shanghai zu bleiben. Nach ein paar Tagen schon wurde im europäischen Bereich der Ausstellung das Licht ausgemacht und die Technik, Beamer und so, weggeräumt.“ Tja, wir sind eben ein wenig überempfindlich. Andererseits – wem wäre es 1990 im Westen eingefallen, in Europa eine große chinesische Ausstellung zu organisieren? Und wenn, dann hätte man wohl auch dort nach einer Woche das Licht ausgeknipst. Jetzt aber, wo sie im Osten auch Geld aufgetrieben haben, hat man gelernt, was Produktion ist. Die Chinesen sind jetzt hier überall, und auch wir wollen in ihrem neuen Imperium gut sichtbar sein. Also müssen wir ihnen eben manches durchgehen lassen. Aber es sollte fair ablaufen. Und deshalb werde ich an dieser Stelle auch keinen auf akademischen Schlagabtausch machen.
In China gehen einigen begabten Künstlern die Themen aus. Sie wissen nicht mehr, womit sie unser Interesse wecken könnten. Formale und geistige Paraphrasen auf traditionelle Motive kommen nicht mehr an, auch von der kommunistischen Pop-Kunst mit Mao, roten Fahnen und tanzenden Fettwänsten in Arbeitsuniformen wird den meisten Sammlern schon schlecht. Das sind nur noch Souvenirs für alternde Touristen. Tja, und die blutigen, beschmierten Performances und Fotos haben sich nie besonders gut verkauft. Deren Zeit kommt nämlich erst noch – aber erst, wenn wir im Westen aufhören, uns vor dem eigenen Kot und Dreck zu fürchten und uns ein totales Chaos wieder normal vorkommt. Aber was passiert bis dahin? Es bleibt noch, sich an einigen, schon berühmten alten Sachen auszutoben. Ja, und am besten mit sehr berühmten, und überhaupt am besten ist es mit den allerberühmtesten. Nicht, dass das was Neues wäre. Wir haben ja bei uns schon so viel wie möglich verschandelt. Aber das blieb irgendwie alles zu Hause. Es ist also ein neues Phänomen, wenn das jetzt eine andere Kultur macht. Die eine Kultur parodiert und beschmutzt die andere. Daran ist auch zu sehen, wie ihnen in den paar Jahren der Kamm geschwollen ist. Sie sagen sich: „Hey, kratzt schon ab!“ Tja, da haben sie wohl ein wenig recht, denn unsere Dummheiten werden hier nur versteckt, während dort die Zeitungen voll damit sind – also wollen sie uns auch noch kulturell und moralisch fertigmachen. Und weil unsere Moral nie viel getaugt hat, wird das mit unserer Kultur wohl ein kurzer Prozess. Und das ist wahrscheinlich der Anfang von diesem Prozess.
Aus Trotz beginne ich in Frankreich. Vielleicht, weil ich Céline mag. Aus der deutschen Perspektive ist er Wolfgang Borchert, Thomas Mann und Rolf-Dieter Brinkmann in Einem. Wenn man Céline liest, weiß man alles über den Geist des Westens. Einen Besseren scheint es in Frankreich nicht zu geben. Tja, und was ist für uns wichtig? In seinen letzten Büchern, die er kurz vor seinem Tod verfasste, wiederholt sich sehr häufig die Behauptung, dass die Chinesen letztendlich sowieso hierher kommen und uns richtig den Arsch versohlen werden. Mad Meg ist eine völlig besessene Zeichnerin. Sie ist Autorin vieler umfangreicher Comicstrips und vor allem von Schwarz-Weiß-Variationen der Werke von Jan van Eyck, Rubens, Rembrandt, Pieter Brueghel, Fillipo Lippi und Hieronymus Bosch. Weil sie Französin ist, passt sie nicht besonders gut in unser pseudo-paradoxes Konzept über West und Ost. Aber gerade das macht es interessant. Wie könnte ich es anders begründen. Mad Meg schätzt unsere westlichen Ordnungen offensichtlich überhaupt nicht, und deshalb gibt es doch einen Zusammenhang. Diesen Zusammenhang fördern wir noch dadurch, dass ich, wenn ich mir das nächste Flugticket nach China zusammengespart habe, ihre Zeichnungen mitnehme. Und wenn die Chinesen die sehen, werden sie sich in Mad Meg verlieben, denn sie haben die Kritik am Westen gern. Sie verleihen ihr die Ehrenbürgerschaft, und Mad Meg zieht vielleicht dorthin. Ich werde diesen holpernden Zusammenhang nicht weiter ausführen, aber weil ich das jetzt schreibe, muss ich also wie sein? Aufrichtig. Die Wahrheit sagen und so. Wie wir das bei uns im Westen gern haben. In China erzählt man manchmal ganz schön viel dummes Zeug! Über Mad Meg schreibt ansonsten auch noch Noelle Papay. Ihr seid also nicht so sehr auf meine Kompilation von Provokationen angewiesen. Und für die Rücksichtsvollen wird Céline genügen.
Aber wir sind schon in China. „Ich denke einfach, dass unsere pluralistische Welt nach und nach ihre kulturellen Unterschiede verliert, ebenso wie sich nationale, geografische und individuelle Unterschiede verringern. Der Versuch, Traditionen zu bewahren, ist nur ein Wunschtraum. Ich bin hingegen davon überzeugt, dass alle Menschen in dieser Welt identisch leben werden. Für das, was verschwindet, bedeutet dies eine Art Tragödie. Für das, was bleibt, hat es keine Bedeutung“, sagt der chinesische Maler und Autor von Animationsfilmen Zhang Gong, und diese Behauptung unterstreicht er mit seinem Werk. Die mei-
sten seiner um 2007 entstandenen Bilder sind bevölkert von einem „Best of“ der Helden aus westlichen Comics und Animationsfilmen. Diese unterschiedlich variierte und sich multiplizierende Bande wird durch zwei östlich aussehende Monster ergänzt, die der Autor Miss Panda und Panda nennt. Miss Panda hat riesige Monokel und erinnert mit ihrer Figur an eine Frau. Ihr Kopf ist aber manchmal verlängert wie bei Gigers Alien. Panda sieht aus wie ein von einem Kind aus Lehm geformtes Mitglied des Ku-Klux-Klans, mit riesigen Monokeln auf seiner Kapuze. Eine Beschreibung wie aus einem Horrorfilm, oder? Denen im Osten kommen Kenny, Bart und Mickey aber manchmal auch komisch vor. Aus Sicht der Ewigkeit sehen also alle normal und auch wie Monster aus. Na, schau mal einer an – die Metapher ist fertig! Nichts Lustiges, oder? Der Künstler ist aber ein echter Trauervogel und fügt hinzu: „Bisher habe ich noch keinen Menschen getroffen, der ein glückliches Leben, frei von Beschwernis und Unfällen leben würde. Gerade in dieser Zeit des Wohlstands (Achtung, der Mann lebt in China, keineswegs in einer anderen Zeit, Anm. d. Verf.) habe ich stets eine Art unaussprechlicher Angst und denke, je wohlhabender eine Gesellschaft, desto größer die Gefahren, denen wir ausgesetzt sind.“ Ich hab‘s doch immer schon gesagt – gleich nach der Geburt abknallen!
Also dieser Chinese, das geht eigentlich noch. Gemalt ist es, wie man sehen kann, durchaus passabel. Formell ist es keine Offenbarung, aber technisch gesehen malen die meisten Künstler viel schlechter. Und er meint es doch noch gut … Eigentlich ist er ziemlich nachdenklich und kritisch. Fast könnte man sagen, dass er die Welt geradezu aus einer westlichen Sicht wahrnimmt. Er hat Angst vor dem Wachstum in China – und vor China haben wir hier alle Angst. Das fing schon mit Jack Londons Erzählung The Unparalleled Invasion an, und die darf seit 1924 nicht mehr publiziert werden. Diese Erzählung ist ziemlich krass, das sag ich euch. Es geht darum, dass in China große Not herrscht. Da ziehen die Chinesen in großen Scharen in den Westen und fressen alles auf. Gelöst wird das ganze durch die USA, die aus Ballons biologische Waffen auf Europa und Asien abwerfen. Dann wartet man, bis alle tot sind – und fertig! Da schaut ihr aber, was der Sternenwanderer alles geschrieben hat. Diesen Erzählband suche ich schon seit längerer Zeit. Er war in meinem Bücherregal. Doch entweder hat ihn mir einer geklaut oder irgendein Mädchen nicht zurückgegeben. Wenn ihr ihn zufällig habt, meldet euch. Ich würde ihn gerne ins Chinesische übersetzen lassen.
Aber das Schlimmste kommt erst noch. Als ich in China war, habe ich mich mit so einem leichtsinnigen Galeristen aus Mexiko und seinen Latino-Künstlerkumpels angefreundet. Einige von ihnen waren schon sehr lange dort und hatten vor allem nur noch Angst oder rümpften über alles die Nase. Arcautes Galerie – so hieß der Galerist – lag über dem großen Atelier eines chinesischen Künstlers, von dem ich erzählen werde. Alle kannten und grüßten ihn, aber niemand war jemals in seinem Atelier gewesen. Alle Latinos schauten nur ängstlich durch die vitrinenähnlichen Fenster. Als ich fragte, um wen es geht, rangen sie nur die Hände und schrien, dass er schreckliche Sachen male. Als ich fragte, welche denn, gestikulierten sie wild, dass sie ganz schrecklich seien, aber dass sie sich nicht hinein trauten. Das fesselte den zynischen Slawen. Ich versuchte also, durch das Fenster zu erkennen, was das für Darstellungen auf diesen riesigen Gemälden waren. Einmal war der Künstler zufällig zu Hause. Er bat mich herein. Die Latinos liefen aus ihren Schatten, Ateliers und Galerien hinaus, fuchtelten mit den Händen und schrien, dass ich auf keinen Fall hineingehen dürfe. Also ging ich rein, und was ich dort sah, könnt ihr jetzt auf der ganzen Seite sehen, weil es wunderbar verrückt und pervers ist … Der Künstler selbst denkt das natürlich überhaupt nicht. Klar, gab es noch viel mehr, aber dieses Bild blieb in meinem Gedächtnis, und ich muss es hier loswerden. Ich verstehe, dass diese Traumaverarbeitung viele von euch belästigen könnte, aber solange ich der Herausgeber dieses Magazins bin, müsst ihr noch einiges schlucken. Woanders drucken sie meine Texte nicht, also klammere ich mich an diese einzige Chance.
Bei Zhang Gong war es einfach. Er redet gern über sich und gibt Interviews. Xue Jiye antwortete mir auf meine Frage nach der Bedeutung seines Werks: „Lieber Herr Mečl, Sie können da hineininterpretieren, was Sie wollen.“ Das nenne ich ein faires Spiel. Es ist nämlich eine perverse Schweinerei. Und das finden wir hier im Westen ziiiemlich gut. Es sieht furchtbar aus, eine brillant gemeisterte Beran-Technik1 und groß wie ein Pferd. Wir hier im Westen schludern ein bisschen bei unseren Schweinereien. Wir schaffen es vielleicht, uns in irgendwelchen perversen Posen abzulichten. Aber das hier muss schrecklich viel Arbeit gewesen sein! Und von solchen Werken gab es in diesem Atelier Dutzende! Eines furchtbarer als das andere. Für den Philosophen Václav Bělohradský, der über die „Solidarität der Erschütterten“ schreibt, hätte es einen Haufen von diesen Erschütterten gegeben.
Xue Jiye weiß vielleicht nicht, was er tut. Er wird zu einem Instrument meines Kalküls, so dass in den Untertitel des Artikels noch ein weiteres Wort hinzukommen könnte und der ganze Satz dann lautet: Unbewusste östliche Dekonstruktion der westlichen Wertetyrannei. Aber so naiv bin ich auch wieder nicht.
Ein Anzeichen für den Verfall einer Zivilisation ist, wenn sie die konkurrierenden Zivilisationen nicht mehr verspotten kann, ihre Sitten und somit auch ihre Weltanschauung übernimmt. Gerade deshalb empfehle ich westlichen Künstler hier nicht, irgendeine berühmte Karikatur von Konfuzius zu variieren und ihm einen riesigen Schwanz dazu zu zeichnen, der … am besten im Arsch eines Pandas steckt. Oder die Mainzelmännchen, wie sie Kung Pao kochen, Pumuckl, zum Tode verurteilt wegen Honigraubs und Käpt‘n Blaubär wegen Piraterie. Ich glaube, da sind wir mit unserem Humor schon ein wenig weiter. Aber dass wir den Osten so verdammt ernst nehmen, ist eine Katastrophe. In China brummt jeder Schlaumeier aus der Wirtschaft oder dem Staatsdienst: „He, ihr da, wir haben hier eine Menge eurer Dollars, also passt verdammt noch mal auf, dass sie immer denselben Preis haben.“ Und aus dem Westen heißt es: „Oh, tut uns Leid, Entschuldigung! Das bringen wir schon irgendwie in Ordnung … Wir geben uns Mühe, aber die Zeiten sind halt schlecht“, anstatt: „Ihr seid aber ganz schöne Idioten. Versucht doch, das gefälschte Geld in Steppdecken zu stopfen. Wir lagen doch auch mit der globalen Erwärmung daneben.“ Oder vielleicht kommt irgendein östlicher Potentat zu einem offiziellen Besuch in den Westen und ein paar Aktivisten schreien herum und wedeln mit Fotos von Leichen. Statt der Potentat einfach zu Hause bleibt und auch die Aktivi-
sten nach Hause geschickt werden. Und wer nicht von selbst geht, kriegt aufs Maul. Das ist eigentlich auch ein Witz, aber wir lachen nicht mehr. Darüber lachen sie schon woanders. Das sind nämlich die übernommenen Sitten und neuen Weltanschauungen. Andererseits gefallen die Leichenfotos denen da oben in keinem Land der Welt. Vielleicht hört das Theater nur dort im Westen auf, wo behauptet wird, dass die Menschenrechte über jeder Art von System stehen. Man hat wohl herausgefunden, dass die Eintrittskarten für solche Stücke zu teuer sind, deshalb geht man lieber zu Reality-Shows, denn die sind umsonst.
In den neunziger Jahren erklärten die westlichen Intellektuellen den Sieg des Westens. Sie vergaßen, wie die kommunistischen Intellektuellen und Politiker durchgängig den Sieg des Sozialismus und den ewigen Bund der Brudervölker verkündet hatten. Gleich nach der Ankündigung ging immer etwas schief, und die Brudervölker begannen, sogar untereinander Krieg zu führen. Der Westen hat den Fehler wiederholt. Wir erleben einen nicht eingestandenen, freien Fall. Wir starren auf unsere eigenen Karikaturen in den Werken des Ostens und sagen: „Tröstet uns!“ Und keine wirklich anständige und souveräne Reaktion. Wir sind ernst und seriös. Wir gehen langsam und besonnen an die Sache heran. Das ist doch alles so komplex und so kompliziert. Wir gehen aus Ehrfurcht vor unserer eigenen Geschichte in die Knie, … allerdings auf der Beerdigung. Dabei sollten wir brüllen: „Ihr Verrückten, das ist eine Farce!“ und aus vollem Hals über die ganze Welt lachen. Auch mit dem Risiko, dass sie uns abführen … an die frische Luft.
Appendix
Bevor dieser Text in die Zeitschrift gelangte, haben ihn die Kollegen gelesen, die sich am meisten für Jack Londons literarischen Fauxpas interessierten. Ich fühlte mich nicht gekränkt und begann, Nachforschungen anzustellen. Östlich von den Grenzen Europas (Slawen eingerechnet) erschien er zuletzt im Jahr 1924. Seither wurde dort hauptsächlich nur noch Wolfsblut gedruckt. Wie schade! Es gibt noch viele solcher Katastrophen- und Gesellschaftsvisionen von London. Er schrieb sie unter dem Einfluss von Alkohol, Drogen und der revolutionären Entdeckungen der Wissenschaft Ende des 19. Jahrhunderts. Jeder Prophet, dessen Vorhersehungen sich erfüllt haben, war auf irgendwas drauf.
Die Slawen sind ein unzuverlässiges Pack, das die Pufferzone zwischen Asien und dem Europa des Westens bevölkert. Das ganze Gesindel stammt aus Indien, mit der Kultur des Westens hat es nichts gemein. Nach Osteuropa wurde es von den Fußtritten der asiatischen Stämme befördert, die zu ihnen ungefähr dasselbe Verhältnis hatten wie die Slawen zu den Roma. Assimilieren oder aussterben lassen. Weil der Einfluss des Ostens damals anstieg, fürchteten sich die verängstigten slawischen Völker davor, solch anstößige Fantasy-Literatur zu verbreiten. Bis in alle Ewigkeit werden sie zwischen der einen und der anderen Seite zappeln und Western lesen.
In der Prager Nationalbibliothek haben sie zwei Exemplare. Das eine ist beschädigt und wird nicht ausgeliehen, das andere wird sicherheitshalber nicht ausgeliehen. Schließlich fanden wir das Buch im Online-Angebot eines Antiquariats, irgendwo in der Mitte einer riesigen Plattenbausiedlung zwischen Prag und dem Eurolager, das sich von Karlstein bis nach Pilsen erstreckt. Wir bestellten das Buch. Doch ein Teil des Antiquariatsgebäudes stürzte genau in dem Moment zusammen, als unsere Kollegin den Ort erreichte. Dass es sich um ein verfluchtes Buch handelt, ist offensichtlich. Eine Woche später gelang es ihr endlich, es aus dem Schutthaufen auszugraben.
Der Text wurde in einer Zeit übersetzt, als das englisch-tschechische Wörterbuch noch 400 Stichworte umfasste und jede Ausformung des literarischen Stils, die an ein chimärisches Wahnbild erinnerte, automatisch in die Sprache von Karel Sabina2 umgewandelt wurde. Um euch die Behauptung zu ersparen, dass „sich alle bisherigen Verbindungen auflösten“, fuhr ich mit etwas Opium und einer Flasche Gin für ein paar Tage in meine Hütte über dem Abgrund. Dort wollte ich ein paar saftige Passagen auswählen und übersetzen. Ihr müsst die englischen Leser also nicht beneiden … obwohl Jack Londons betrunkenes, visionäres Amerikanisch auch ziemlich komisch ist.


1 Zdeněk Beran gehört zu den konservativsten Malern in Tschechien. Charakteristisch für ihn sind seine hyperrealistischen Studien verschiedener Teile des menschlichen Körpers, die oft dekadent wirken können. (Anm. d. Übers.)
2 Autor romantischer Fantasy-Literatur und unterschätzter Volksverräter (Anm. d. Verf.)

Aus dem Tschechischen von Karin Rolle und Filip Jirouš.




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