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Das "Diskrete Prinzip˝  in der Krise.
Zeitschrift Umělec
Jahrgang 2006, 3
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Das "Diskrete Prinzip˝ in der Krise.

Zeitschrift Umělec 2006/3

01.03.2006

Václav Magid | studie | en cs de

Hinweis auf ein Problem

Die vor kurzem beendete Ausstellung Indikace („Hinweis“), von der Kuratorin Mariana Serranová in den heruntergekommenen Räumen einer ehemaligen Zahnarztpraxis veranstaltet, hat vor allem aufgrund eines bezeichnenden Merkmals Eindruck auf mich gemacht: Einen Großteil der ausgestellten Arbeiten bildeten Interventionen in die konkrete Umgebung, die so angelegt waren, dass sie kaum wahrnehmbar waren. Zbyněk Baladrán überstrich eine der besser erhaltenen Wände aufwändig mit mehreren Schichten Wandfarbe so, so dass sie schließlich wie eine baufällige Wand aussah. Tomáš Vaněk bildete im Raum nebenan mit der für ihn typischen Schablonentechnik Schatten nach, die sich genau mit den durch die künstliche Beleuchtung im Raum geworfenen Schatten deckten. Die Mitglieder der Gruppe Ládví stellten geraniengefüllte Blumenkästen in die Fenster und installierten ein Leitsystem durch die Ausstellung auf dem Fußboden. Ihre Interventionen erfüllten gleichzeitig eine schmückende und eine nützliche Funktion im vorhandenen Raum, weshalb sie nur schwer als Kunstwerke erkennbar waren. Barbora Klímová manipulierte die Farbschattierungen der Kacheln an den Wänden so unauffällig, dass scheinbar zufällig Jahreszahlen darauf sichtbar wurden. Dominik Lang erschwerte den Durchgang zwischen zwei Räumen, indem er eine Tür der Länge nach in zwei Hälften teilte, von denen sich nur eine öffnen ließ. In einer weiteren Intervention hängte Lang aus dem Fenster des Ausstellungsraumes eine Glühbirne auf die Straße hinaus. Daneben stand eine normale Straßenlaterne, mit der sie gleichzeitig eingeschaltet wurde. Ähnlich unsichtbar – wenn auch eher unbeabsichtigt – geriet das Projekt von Jiří David, der kleine Fähnchen mit Staub bedeckte und eine Arzneipackung in Öl versenkte. Ein Video von Vasil Artamonov und Alexej Kljujkow zeigte die Künstler bei einer Reihe von Alltagsverrichtungen, die sie durch geringfügige Variationen unauffällig in praktische, aber illegale Handlungen verwandelten.
Alle hier beschriebenen Arbeiten stellten Eingriffe in bestimmte bestehende Räume dar, die dem Prinzip kaum wahrnehmbarer Veränderung gewohnter Anordnungen folgten. Die Diskretheit dieser Manipulationen scheint dabei Gebot und Hauptziel des kreativen Bemühens zu sein, ohne dass es eine klare Rechtfertigung dafür gibt. Der gewollte Widerspruch einer Kunst, die sich entgegen ihrer herkömmlichen Bestimmung vor dem Betrachter versteckt, war plötzlich alles andere als überraschend. Anders als eine Hinterfragung von Wahrnehmungskonventionen wirkte dieses Prinzip hier eher wie ein gängiger Effekt gegenwärtiger Kunstproduktion.
Die Strategie winziger Veränderungen im Alltagsraum ist typisch für das “diskrete Prinzip”, das sich in den letzten zehn Jahren in der tschechischen Kunst etabliert hat. Dieser Artikel versucht, die Quellen und die Entwicklung dieser “Verschiebungen” aufzuspüren und sie mit weiteren, ihr verwandten Manipulationen zu vergleichen, sowie die Merkmale der Krise zu beschreiben, in der sie sich zur Zeit befindet.


Das “diskrete Prinzip”
in der tschechischen Kunst


Die Anfänge des “diskreten Prinzips” in der tschechischen Kunst reichen in die zweite Hälfte der 90er Jahre zurück, als eine Reihe von Künstlern die Szene betrat, die sie inzwischen dominieren. Das Typische dieser Periode versuchte die Kuratorin Pavlína Morganová 2005 in der Ausstellung Insiders herauszustellen. Ihre Definition der wesentlichen Merkmale dieser Strömung, die sich im Untertitel Die unauffällige Generation der zweiten Hälfte der 90er Jahre widerspiegelte, lässt sich freilich kritisieren. Das Element des Verwischens der sichtbaren Grenze zwischen Kunstwerk und Alltag spielte lediglich bei drei der elf präsentierten Künstler eine zentrale Rolle – bei Baladrán, Mančuška und Vaněk – und das erst ganz am Ende der genannten Periode. Bei den übrigen Künstlern findet sich das Prinzip eher in Form von Andeutungen, die das Ausstellungskonzept künstlich in den Vordergrund rückte. Ich bin der Ansicht, dass durch die Konzentration auf Künstler, die das formale Element der “Unauffälligkeit” erfüllten, die Zusammenstellung einer wirklich repräsentativen Auswahl von Künstlern der Generation der “Insiders” vergeben wurde. So überging die Kuratorin eine ganze Reihe wichtiger Figuren, unter anderem Josef Bolf, Jan Kadlec, Markéta Othová, Milan Salák, Vít Soukup oder Jan Šerých (1). Möchte man überhaupt ein Wort bemühen, um die Poetik der Generation der späten 90er Jahre zum Ausdruck zu bringen, so würde ich den Begriff “zivil” bevorzugen, im Sinne von einfacher Kunst, unspektakulär und verankert “im lokalen sozialen Kontext und in der Alltagserfahrung” (2) Mit ihm lassen sich nicht nur die gewählten Materialien und formalen Methoden beschreiben, sondern auch die Themen. Entgegen der Behauptung, dass eine Generation “auf charakteristische Weise Objekte, Installationen und postkonzeptionelle Projekte für einen bestimmten Raum und eine spezifische Situation schafft” (3), könnten wir der Malerei, der Fotografie oder Installationen den gleichen Raum zugestehen, sofern sie den Begriff des “Zivilen” thematisch auf irgendeine Weise berühren.
Trotz der erwähnten Vorbehalte war die Ausstellung Insiders allein deswegen wichtig, weil sie den Versuch eines generellen Überblicks über die Kunst der jüngsten Vergangenheit unternahm. Die Beschreibung typischer Merkmale in den Arbeiten der “Insider” im Katalogtext bringt alle wesentlichen Kennzeichen der frühen Phase des “diskreten Prinzips” zum Ausdruck. Unter Einbeziehung dieses Textes versuche ich, eine etwas weiter gefasste Beschreibung des Schaffens der Generation der späten 90er Jahre zu geben, und die Anfänge dieser Tendenz in diesen Rahmen einzuordnen.
Die tschechische Kunst zu Beginn der 90er Jahre entsprach der Aufbruchsstimmung, die nach dem Regimewechsel im ganzen Land spürbar wurde. Sie war auch beeinflusst von Trends, in denen sich sowohl die Globalisierung als auch das Bestreben niederschlug, der Massenkultur mit deren eigenen Waffen Konkurrenz zu machen. Institutionsbezogene Merkmale dieser Periode waren die Transformation des Galeriebetriebs und der Versuch, einen Kunstmarkt aufzubauen, in dem die Künstler kompetente Vertreter ihrer eigenen Arbeiten sein sollten. Die eigentliche künstlerische Produktion vollzog sich im Zeichen neokonzeptioneller Annäherungen, postmoderner Spielchen mit der Identität, der Entdeckung der Möglichkeiten neuer Technologien und dem Spiel mit Elementen von Kitsch und Massenkultur. Typisch dafür waren Multimedia-Installationen und großformatige Fotografien.
Die mangelnde finanzielle Unterstützung des Kulturbetriebs und das schlecht funktionierende tschechische Galeriesystem führten zusammen mit der Desillusionierung in Bezug auf neue Kunstformen bei der Künstlergeneration der zweiten Hälfte des Jahrzehntes zu einer neuen Ausrichtung auf ihren eigenen unmittelbaren Kontext und ihre spezifische persönliche Geschichte hin. Statt an allgemeinen Themen, deren Essenz die vorhergehende Generation mittels einfacher Metaphern zu erfassen gesucht hatte, orientierten sich diese Künstler an lokalen Besonderheiten und Abweichungen, die sie aus der eigenen Erfahrung gut kannten und aus denen sie nicht nur die Themen, sondern auch die Mittel der Präsentation schöpften. Zum Gegenstand künstlerischen Wirkens wurden insbesondere obsessive Praktiken wie z.B. Sammeln, Nähen oder Do-it-yourself-Praktiken.
Das Wirkungsspektrum der zivilen Poetik dieser Generation bewegte sich zwischen zwei Extremen, die man zur Orientierung mit “Inhalt” und “Form” bezeichnen kann. Die Künstler, die dem “inhaltlichen” Pol zuzurechnen sind (Pěchouček, Salák, Soukup), konzentrierten sich in erster Linie auf die Suche nach spezifischen Themen, nach prägenden Erlebnissen und typischen Obsessionen, um ihre soziale und historische Identität zu umreißen. Den Ausgangspunkt bildete dabei das konventionelle Leinwand-Gemälde, in das narrative Elemente eingearbeitet wurden. Die narrative Tendenz ging einher mit zahlreichen Anspielungen auf die private und alltägliche Dimension der auf die politische Normalisierung folgenden Epoche, die diese Generation geprägt hat. Diesen Künstlern ging es also vor allem um die Abbildung der Besonderheiten ihres lokalen gesellschaftlichen Raumes. Im Gegensatz dazu orientierten sich diejenigen, die dem “formalen” Pol repräsentierten(Mančuška, Vaněk) an der Arbeit mit neuen Ausdrucksmitteln, die so tief wie möglich im lokalen Raum verwurzelt sein sollten. Statt der Abbildung des Alltäglichen widmeten sie sich der Schaffung von Kunst mit alltäglichen Mitteln. Sie wandten sich von den traditionellen künstlerischen Medien ab und begannen, neue kreative Methoden, die von alltäglichen Tätigkeiten beeinflusst waren, einzusetzen, indem sie Gebrauchsgegenstände und leicht erhältliche billige Materialien einsetzten. Thematisch gesehen blieben sie bei den grundlegenden Formen des Standard-Inventars an Alltagsobjekten (Mauer, Stuhl, Topf, Stecker...) und konzentrierten sich in erster Linie auf die Entwicklung unterschiedlicher Strategien, um diesen Raum zu durchdringen. Schritt für Schritt erarbeiteten sie ein Prinzip, das einige von ihnen bis heute anwenden: Kleine Abwandlungen bei der Wahl des Materials, bei der Art und Weise der Bearbeitung, bei der Verwendung oder Platzierung, die den Betrachter in Hinblick auf den ontologischen Status dessen, was er sieht, verunsichert. Ján Mančuška arbeitete zunächst mit typischen Haushaltswaren (Zahnstocher, Wattestäbchen, Zwirn) als Material für eine Zeichnung; später begann er, Objekte zu schaffen, die sich schwer bestimmbar an der Grenze zwischen realen Dingen und deren Darstellung oder Imitation bewegten.
Mit seiner Serie von “Partizipen” für spezifische Orte und Situationen realisierte Tomáš Vaněk vielfältige Variationen illusionärer Dopplungen oder Simulationen realer, funktionsfähiger Objekte (Klingeln, elektrische Schalter, Haken). Heimwerken als künstlerischen Ansatz trieb Zbyněk Baladrán in seiner Ausstellung Hobby in der Galerie Jelení (2001) auf die Spitze. Seine Serie nicht funktionsfähiger und instabiler Konstruktionen erinnert ein wenig an Ikea-Möbel.
Hier sehen wir also, dass die Tendenz hin zu einer Strategie winziger Verschiebungen im Alltagsraum ursprünglich motiviert war von einem neuen Blick auf den lokalen sozialen Kontext, sowie von der Bemühung, künstlerische Repräsentation und Alltagsaktivitäten einander näher zu bringen.
Von nun an nenne ich Kunst, die sich dieser Strategie bedient, das “diskrete Prinzip” der heutigen Kunstszene in Tschechien. Obwohl am Ursprung dieser Tendenz Künstler standen, die ich dem “formalen” Pol der zivilen Kunst vom Ende des vergangenen Jahrzehntes zugeordnet habe, setze ich die Tendenz nicht mit konkreten Personen gleich, sondern mit bestimmten Merkmalen künstlerischen Schaffens, die sich bei den verschiedenen Künstlern finden.


Die “unspektakuläre Moskauer Kunst” und die Kritik der Darstellung

Ähnliche Methoden wie die, welche von vielen tschechischen Künstlern um 2000 angewandt wurden, tauchten später in Präsentationen der sogenannten “unspektaktulären Moskauer Kunst” (2001-2002) auf. Die Ideen Anatolij Osmolowskijs, der Schlüsselfigur dieser Bewegung, der 2002 in der tschechischen Szene bekannt wurde, verhalfen den Vertretern des “diskreten Prinzips” zu Selbstbewusstsein vor dem Hintergrund der gegensätzlichen Tendenzen in der zeitgenössischen Kunst. Osmolowskij bot eine zugkräftige Interpretation der Beziehung zwischen Kunst, Macht und Unterhaltungsindustrie an, indem er die Strategie des tschechischen “diskreten Prinzips” als einzige wirksame Alternative zu Massenkultur, Medien und Werbung bezeichnete. (4)
Theoretischer Ausgangspunkt der Moskauer unspektakulären Kunst ist die Analyse der kapitalistischen Gesellschaft von Guy Debord, Anführer der Situationistischen Internationale, die er in seinem Werk Die Gesellschaft des Spektakels (1967) formuliert. Debords Postulate, die Osmolowskij übernommen hat, lassen sich in ein paar Sätzen zusammenfassen: Die moderne Gesellschaft definiert sich durch die Anhäufung von Spektakeln. Industrielle Überproduktion und die absolute Macht der Bilder entfremden uns von unserer alltäglichen Erfahrungswelt. Wir erleben unser Leben nur noch mittelbar über Bilder. Real zu sein bedeutet gesehen zu werden; eine Gesellschaft, deren Leben auf die Betrachtung ihrer eigenen Darstellungen begrenzt ist, verharrt in permanenter Gegenwart und bildet keine Geschichte. Das Gegenstück zur Transparenz des gesellschaftlichen Lebens ist die Undurchschaubarkeit der Macht, die hinter den Darstellungsmechanismen von Werbung, Medien, Propaganda und Unterhaltungsindustrie verborgen bleibt. In einer Gesellschaft, die vollständig dem Warenkreislauf untergeordnet ist, erschöpfen sich die Möglichkeiten der Selbstverwirklichung im Konsum.
Ein Wesensmerkmal des Spektakels ist seine Fähigkeit zur Wiederaufnahme alternativer sozialer Modelle und selbstständiger Reflexion. Wenn unabhängige künstlerische Initiativen vom System absorbiert werden, verlieren sie ihre kritische Intensität. Sie werden kommerzialisiert und verwandeln sich in eine weitere Unterhaltungsform, die die Massen besänftigt und verhindern soll, dass sie kritisches Selbstbewusstsein erlangen. Nach Osmolowskij hat dieses Schicksal sämtliche Strategien ereilt, die für die Kunst der neunziger Jahre typisch waren. Die Künstler, die sich die Zeichen der Massenkultur auf eine ironische Weise aneigneten, indem sie deren Territorium auf subversive Weise betraten – oder versuchten, sie durch noch gesteigerte Schockwirkung oder monumentale Visualität herauszufordern – sie wurden letztendlich zu Pop-Stars, die den Bedarf der Medien nach Nonkonformität stillten. Kunst-Biennalen, die vorherrschende Präsentationsform zeitgenössischer Kunst in diesem Jahrzehnt, wurden wie Filmfestivals und Fernsehshows Teil der Unterhaltungsindustrie.
Osmolowskij formulierte eine allgemeine Schlussfolgerung, die auf der Aneignung der kritischen künstlerischen Strategien der 90er Jahre basiert. Jede Kritik, die Darstellungsmechanismen verwendet, die in der gegebenen Gesellschaft als Instrument der Unterdrückung wirksam sind, ist notwendigerweise in sich unschlüssig, da sie die Legitimität eben dieser Mechanismen bestätigt. Eine direkte Gesellschaftskritik, die mit der offiziellen Doktrin um medialen Raum ringt, muss sich notwendigerweise der Sprache von Werbung und Propaganda bedienen und verstärkt so in letzter Konsequenz die Macht der Medien und dessen, was sie darstellen. Osmolowskij folgert daraus, dass eine kritische Oppositon, die sich vor Instrumentalisierung schützen will, die direkte Kritik durch indirekte, “flexible” Kritik ersetzen muss. Die Kunst soll aufhören, danach zu streben, mit der Unterhaltungsindustrie zu konkurrieren und muss ihre eigene, “asymmetrische Antwort” ausarbeiten. Sie muss sich einen Raum schaffen, der für die Medien undurchdringlich ist und eine spezifische Sprache schaffen, die sich von der Sprache der Werbung und der Unterhaltungsindustrie unterscheidet. Die kritische Haltung der künstlerischen Aussage muss also von der Ebene des Inhalts auf die Ebene der Form, der inneren Konfiguration übergehen. Die Anwendung von Debords Kritik des Spektakels auf die Kunstproduktion der späten 90er impliziert eine Rückkehr zu den formalistischen Strategien der Moderne.
Osmolowskijs Abgrenzung der formalen Vorgehensweisen dessen, was er als unspektakuläre Kunst bezeichnet, geht von der Negation der grundlegenden Wesensmerkmale des Spektakels aus. In einer Gesellschaft, die der totalitären Macht der Bilder vollständig unterliegt, besteht die einzige Möglichkeit für die Kunst darin, auf Darstellung zu verzichten. Die Kunst soll nicht neue Bilder erschaffen, sondern Verschiebungen in der Realität bewirken. Das unspektakuläre Kunstwerk besteht gerade in solchen Verschiebungen, die von dem, was alltäglich ist, kaum zu unterscheiden sind. Im Gegensatz zur traditionellen Art und Weise, Ausstellungen anzusehen, wo wir Objekte passiv konsumieren in einem Rahmen, der von vorne herein definiert, dass es sich um Kunstwerke handelt, erfordert die Rezeption der unspektakulären Werke vom Betrachter eine gesteigerte Aktivität. Der Betrachter muss den Ausstellungsraum erkunden, sich auf die Suche begeben nach kleinen Unstimmigkeiten, die künstlerische Interventionen sein könnten. Für Osmolowskij ist diese Art der Kunstrezeption eine elementare Form kritischer und politischer Aktivität. Der ideale “Betrachter-Aktivist” entlarvt die inneren Widersprüche der Realität, wenn er feststellt, dass das, was er sieht, in Wirklichkeit nicht das ist, als was es erscheint. Er entdeckt auf diese Weise die Konstruktion, die hinter der äußeren Neutralität des Alltäglichen verborgen liegt.
Wir sehen, dass Osmolowskijs Beschreibung der Strategien der unspektakulären Kunst perfekt auf die Beispiele der diskreten Interventionen in den alltäglichen Raum passt, die wir aus Tschechien kennen. Während jedoch bei den tschechischen Künstlern dieses Vorgehen das logische Ergebnis einer vorausgehenden künstlerischer Praxis darstellte, war die Moskauer unspektakuläre Bewegung ein Produkt von Spekulationen. Sie war eine künstlich geschaffene Kunstrichtung, deren programmatische Thesen aus einer Kombination von Osmolowskijs Lektüre von Debord und aus seinen Besuchen internationaler Ausstellungen zeitgenössischer Kunst entstanden waren. Der Kreis ihrer Vertreter beschränkte sich auf ihren Gründer sowie auf junge, am Anfang ihrer Karriere stehenden Künstler, die unter seinem unmittelbaren Einfluss arbeiteten. So ist es verständlich, dass die Moskauer unspektakuläre Kunst äußerst kurzlebig war. Ihre Künstler, deren Kreativität nicht über die sklavische Erfüllung des theoretischen Programms hinausging, konnten diese vorgegebene Strategie nicht weiterentwickeln, so dass sich diese schnell erschöpfte.


Nicht allzu entfernte Ähnlichkeiten

Die Ursprünge des “diskreten Prinzips” in der tschechischen Kunst und die der Moskauer “unspektakulären Kunst” unterscheiden sich, doch einige Aspekte ihrer Strategien, stimmen insofern überein, dass man wohl zu jedem Werk der einen Richtung eine konkrete Analogie aus der anderen Richtung finden kann. Tatsächlich sind die Werke der tschechischen Künstler meist geistreicher, poetischer, weniger beschreibend, besser ausgearbeitet, zahlreicher und erstrecken sich über einen größeren Zeitraum. Die Prinzipien jedoch, auf denen sie aufbauen, weisen explizite Analogien zu den Arbeiten der russischen Künstler auf.
Hier einige Beispiele. Während David Ter-Oganjan den Schatten realer Menschen Projektionen von Schatten nicht existierender Personen unterschob, schafft Tomáš Vaněk künstliche Schatten von Gegenständen mittels Schablonengraffito-Technik. Alexej Kallima verlängerte Zigarettenpackungen um 1 cm, nur ein paar Jahre nachdem Jiří Skála Lineale um 3 cm kürzte. Die Gruppe ESCAPE reihte eine falsche Säule zwischen echten Säulen nur ein paar Jahre früher ein, als Dominik Lang begann, Duplikate von echten Wänden, Fußböden, Treppenhäusern und Schwellen zu fertigen. ESCAPE erhöhte nach und nach Parkbänke, die in einer Reihe standen, indem sie Holzklötze unterlegte. Lang beklebte die Beine von Stühlen mit einer unterschiedlichen Anzahl von Filzgleitern, um so ihre Stabilität zu beeinträchtigen. Das Prinzip des künstlichen Defektes im Interieur finden wir bei Osmolowskij, der 2001 auf einer Ausstellung aufgewölbtes Parkett präsentierte, wie auch in Baladráns Imitation einer verfallenen Wand, die in diesem Jahr bei der Ausstellung Indikace gezeigt wurde.
Auf der Suche nach Analogien müssen wir uns nicht auf Künstler beschränken, die üblicherweise mit dem “diskreten Prinzip” in der tschechischen Kunst in Verbindung stehen. Tatjana Chengstler setzte ein Steinchen in ein Fensterglas ein; die Gruppe Podebal tat dasselbe mit einem Ziegelstein in der Glastür der Nationalgalerie. Eine gewisse Übereinstimmung findet sich auch zwischen den Aktionen “Hladovka bez vznášení požadavků” („Hungerstreik ohne Forderungen“) der Gruppe Radek und Demonstrace demokracie („Demonstration der Demokratie“) der Gruppe Rafani. Die Teilnehmer der ersten Aktion hungerten einige Tage, ohne darzulegen, was sie eigentlich wollten. Die Teilnehmer der zweiten Aktion verbrannten öffentlich eine Schwarzweiß-Imitation der tschechischen Flagge; sie wurden von der Polizei festgenommen, aber unmittelbar darauf wieder freigelassen, weil nicht klar war, was sie eigentlich anprangerten. In beiden Fällen war die Form des politischen Protestes frei von einem konkreten Inhalt.
Der historische Hintergrund, vor dem nach Beispielen für dieselben Strategien suchen könnten, lässt sich weit in die Vergangenheit und auf verschiedene andere Orte ausdehnen. Wir würden feststellen, dass sich Künstler immer dann den winzigen Verschiebungen im Alltäglichen zugewandt haben, wenn ihre Aktivitäten im Zusammenhang standen mit engen, informellen Gesellschaften und mit kleinen, inoffiziellen Räumen. Dies war die Regel während der gesamten 90er Jahre, und auch schon in diesem Jahrzehnt gab es Versuche, diese Praxis in großen Ausstellungen zu integrieren.


Aneignungen

Es ist leicht, Osmolowskijs Folgerung anzufechten, dass gerade diskrete Interventionen in das Alltägliche eine kritische Opposition zur Welt des Spektakels darstellen sollen. Problematisch ist vor allem die Gleichsetzung des Spektakels mit Visualität, weil sie die ursprüngliche Konzeption von Guy Debord verzerrt. Der Begriff “Spektakel”, wie ihn Debord gebraucht, entspricht nicht der “Spektakulärität” der heutigen darstellenden Medien, sondern ist eine Allegorie des späten Kapitalismus als bestimmte historische sozio-ökonomische Formation. Die Passagen in Gesellschaft des Spektakels, in denen Debord die Vernichtung der Darstellung fordert, sind eher rhetorisch gemeint.(5) Das filmische Werk von Guy Debord zeigt, dass er die nichtspektakuläre oder antispektakuläre Strategie nicht als Negation der darstellenden Medien begriff, sondern vielmehr als “Abweichung” von gewöhnlichen Rezeptionsweisen. Das Aufgeben der Bildhaftigkeit, das Osmoslowskij preist, ist also in Wirklichkeit keine Reaktion auf die Unterdrückung des Spektakels. Es ist vielmehr die verspätete Diagnose der gegenwärtigen Darstellungskrise, in der sich die Kunst seit den 90er Jahren befindet. Diese Krise beschreibt Osmolowskij sehr gut, wenn er von der Unmöglichkeit spricht, visuell mit der Massenkultur konkurrieren zu können, also mittels traditioneller künstlerischer Mittel, derer sich die Unterhaltungsindustrie bemächtigt hat. Auch die unspektakuläre Kunst, die zugunsten der Verschiebungen im Alltäglichen auf Bilder verzichtet hat, bietet jedoch nichts, dessen sich die Medien nicht bemächtigen könnten. Tatsächlich wurden die Thesen dieser Kunst schon in den Medien verbreitet, bevor sie überhaupt in Ausstellungen zu sehen war.
Die künstlerische Strategie, welche Osmolowskij unter dem Etikett der unspektakulären Kunst anbietet, ist in Wirklichkeit nichts Neues. Wie Wiktor Miziano feststellt, geht es dabei um eine Ästhetik, die in der Kunst der 90er Jahre bereits weit verbreitet war und zugleich in der Werbung eingesetzt wird. Sie gründet darauf, Nachdruck zu legen auf ein einziges effektvolles Manöver: auf die geringfügige Abwandlung, auf einen Scherz, der auf den ersten Blick nicht erkennbar ist. Die Beteiligung des Betrachters beschränkt sich auf die Aufgabe, diesen Scherz zu erkennen. Kunst nach diesem einfachen Prinzip wird so “immer schnell verstanden, sie erschöpft sich schnell und sie lässt sich ebenso schnell von jedem beliebigen System aneignen”.(6) Diese Bobachtungen gelten für alle Kunstwerke, die mit unmerklichen Manipulationen im Alltäglichen arbeiten, und auch für das “diskrete Prinzip” der tschechischen Kunst. Die praktischen Erfahrungen aus den Ausstellungen in Tschechien helfen jedoch, einige spekulative Thesen der unspektakulären Kunst zu widerlegen, wie zum Beispiel das Modell des “Betrachters als Aktivist”. Das detektivische Forschen nach möglichen künstlerischen Interventionen im Galerieraum wird schnell zu einer stereotypen Tätigkeit, die keinerlei intellektuelle oder kritische Anstrengung erfordert.
Weder die Moskauer “unspektakuläre Kunst” noch das “diskrete Prinzip” der tschechischen Kunst haben also eine revolutionäre künstlerische Strategie entwickelt. Die Praxis der winzigen Verschiebungen im Alltäglichen, zu der sich beide Bewegungen programmatisch bekennen, stellt ein bekanntes ästhetisches Prinzip der zeitgenössischen Kunst dar. Sobald man die Aufmerksamkeit von den theoretischen Argumenten oder der lokalen Poetik abwendet, die in einzelnen Fällen die Anlehnung an das genannte Prinzip begründen, kommt dessen Trivialität und Abgenutztheit zum Vorschein.
Ich selbst konnte die Entfremdung und Aneignung dieser Strategie durch das offizielle Kunstsystem bei der Eröffnung der letztjährigen Bienále současného umění Druhý pohled („Biennale der zeitgenössischen Kunst Zweiter Blick“) im Messepalast erleben. Der Künstler Awdej Ter-Oganjan, ein wichtiger Vermittler zwischen der Moskauer und Prager Szene, realisierte in Zusammenarbeit mit der Galerie Display eine Aktion, die den ruhigen Verlauf der Vernissage ein wenig stören sollte. Unter die Besucher sollten sich einige Dutzend Menschen mit Gipsbein mischen. Nur diejenigen, denen die Multiplikation dieser banalen Erscheinung aufgefallen wäre, hätten sie als eine künstlerische Manipulation erkannt. Als Teilnehmer dieser Aktion fielen mir zwei Dinge auf: An der Aktion nahmen sowohl Vertreter der Prager Kunstszene wie auch der Moskauer unspektakulären Bewegung teil, die auf die Biennale eingeladen worden waren. Doch die beiden Gruppen kommunizierten überhaupt nicht miteinander. Der Gemeinschaftscharakter dieser Aktion, die auf einer freundschaftlichen Zusammenarbeit gründete im Kampf gegen denselben Feind, das institutionalisierte Kunstsystems, konnte auf diese Weise nicht gelingen. Die Menschen, die mit ihrem Gipsbein durch den Messepalast staksten, schienen keineswegs die Abläufe der Institution zu stören, sondern sie gingen in der karnevalartigen Atmosphäre der Vernissage unter. Sie verschwanden zwischen den vielen anderen Performances, die den Ausstellungsraum belebten – einem Paar, das vor jedem Werk stehen blieb und klatschte oder einem Paar mit angeklebten Schnurrbärten. Beim abschließenden Treffen auf dem Dach der Galerie, wo wir zusammen mit den anderen Gästen den Blick auf Prag genießen durften, mussten sich auch die erbittertsten Gegner der Show von Milan Knížák, dem Leiter der Nationalgalerie, eingestehen, dass sie selbst Teil derselben geworden waren.


Die Kanonisierung des “diskreten Prinzips”
und die Zeichen der aktuellen Krise


Um 2002 herum begann sich das “diskrete Prinzip” in der tschechischen Kunst zu formalisieren und zu institutionalisieren. Die an seiner Entstehung beteiligten Künstler wurden zu den erfolgreichsten ihrer Generation. Dank ihrer Teilnahme an neuen institutionellen Initiativen der tschechischen Szene, wie etwa PAS, Display und Tranzit, fanden sie Anschluss an die internationale Kunstszene. Das “diskrete Prinzip” löste sich auf diese Weise von der Gemeinde und wurde Teil eines breiteren Austausches künstlerischer Standpunkte. Konkrete Projekte, Aktivitäten und Strategien, die ursprünglich mit dem lokalen sozialen Milieu verbunden waren, wurden so in einen größeren Zusammenhang gestellt und verallgemeinert, vereinfacht und entfremdet. Ein gutes Beispiel hierfür ist der Schaukasten BJ, der einige Jahre die Funktion einer Ausstellungsfläche in der Dělnická ulice in Holešovice erfüllte. Im Jahre 2002 schickte ihn die Gruppe PAS (Produkce aktivit současnosti – “Produktion zeitgenössischer Aktivitäten” – Havránek, Skála, Vaněk) auf das Art-Kljazma Festival für zeitgenössische Kunst in Russland. Während der Schaukasten im lokalen Kontext (in Prag) die Funktion eines alternativen Rahmens für die Präsentation von Werken junger Künstler hatte, wurde er im Ausland als ein selbstständiges Projekt ausgestellt. Auf diese Weise wurde die Lokalität selbst aus dem lokalen Kontext herausgerissen und als Fahrkarte zur internationalen Szene für zeitgenössische Kunst verwendet.
Als Reaktion auf die Veränderung des Kontextes entfernen sich diese Künstler von ihren Ursprüngen, der sozialen Poetik der späten 90er Jahre, und konzentrieren sich darauf, eigene Positionen zu formulieren innerhalb der divergierenden Positionen in der Weltkunst. Die alten allgemeinen Konzepte, die von unmittelbaren lokalen Erfahrungen resultierten, wurden durch theoretische Konstrukte ersetzt, die das neuerlich erlangte Selbstbewusstsein in Bezug auf den internationalen Kontext widerspiegeln. Zur Illustration der veränderten Rhetorik: Während eine Rezension von Vít Havránek aus dem Jahre 2000 im Magazin Umelec zur Ausstellung von Ján Mančuška die Überschrift “Basteln auf dem Vormarsch” trug, heißt der programmatische Text, den die beiden im Jahre 2004 gemeinsam verfasst haben, “Revolution im asynchronen Raum”. (7) Um das “diskrete Prinzip” herum bildet sich nach und nach ein kanonischer Komplex von begrifflichen Abstraktionen: Flüchtigkeit, Minimum an Kunst, unmittelbarer Kontext, Fluidität, Asynchronizität, Asymmetrie, permanente Kritik, konstruierte und arbiträre Geschichte, Postproduktion. Einige der charakteristischen Begriffe wurden von der Debatte der 90er Jahre, vor allem aus den Texten von Jiří Ševčíkov übernommen. Andere entstanden als Reaktion auf Konzepte ausländischer Künstler und Theoretiker; von Nicolas Bourriaud bis hin zu Anatolij Osmolowskij. Gleichzeitig wurde ein Kanon künstlerischer Strategien und Wesensmerkmale festgelegt, anhand welcher progressive Vertreter der tschechischen Szene identifiziert werden können: Interventionen in der Umgebung, Erstellung neuer Projekte für konkrete Situationen und Räume („site specific“), Arbeit mit dem kleinsten Intervall, das sich mittels Verschiebung erreichen lässt, Vermehrung und Simulation von Elementen der gemeinsamen Wirklichkeit, zielgerichtete Ästhetik, Verwendung billiger Materialien, Grenzgänge zwischen Kunst, Design, Architektur und nicht-künstlerischen Aktivitäten, Prozesshaftigkeit, Verankerung im lokalen sozialen Kontext, Nachahmung soziologischer Methoden und Analyse, Zusammenarbeit mit bestimmten sozialen Gruppen, Infiltration des öffentlichen und medialen Raums und Anknüpfung an konzeptuelle und minimalistische Tendenzen der 70er Jahre. Zentrales Motiv dieser Auflistung von Strategien ist wieder das gute alte Prinzip der diskreten Manipulation des Alltäglichen.
Diese begriffliche Abstraktion und kanonische Zusammenstellung von Strategien wirkt wie eine magische Zauberformel, in der sich die zeitgenössische tschechische Kunstszene wieder erkennt. Gleichzeitig bestimmt sie auch den Rückblick auf die jüngste Geschichte tschechischer Kunst – wie das Ausstellungskonzept von Insiders beweist. Das gegenwärtige Denken über Kunst in Tschechien (und der Autor dieser Zeilen nimmt sich da nicht aus) beschränkt sich größtenteils auf ein paar allgemeine Ideen, die im Rahmen des “diskreten Prinzips” entwickelt wurden. Das Vorherrschen dieser Richtung in der tschechischen Kunstszene wird unterstrichen durch die Tatsache, dass wir im Moment offensichtlich keine besseren Begriffe haben, um unsere Erwartungen an die aktuelle Kunst zu artikulieren. Die Nachhaltigkeit, mit der sich diese konzeptuelle Formel hält, hängt zusammen mit der verzögerten Entwicklung der künstlerischen Praxis selbst, die reflexartig eingefahrene Methoden reproduziert. Gerade davon konnte man sich bei der Ausstellung Indikace überzeugen. Mariana Serranová schreibt im Text zur Ausstellung unter anderem: “Wie können wir uns schützen vor der allgegenwärtigen Manipulation der Gesellschaft durch das mediale Bild? Die konzeptuelle Kunst bietet eine Lösung: sich diesen Strategien zu verweigern und ökonomische Formen abzulehnen.“(8) Das ist nichts anderes als die Beschreibung des Konzeptes der “asymmetrischen Reaktion”, die ohnehin Thema war für einen Teil der örtlichen Kunstgemeinde – in direkter Anknüpfung an Osmolowskij.
Wie die Ausstellung Indikace nochmals bestätigte, ist das Schlüsseldogma der zeitgenössischen tschechischen Kunst gleichzusetzen mit der unspektakulären Strategie: “Man muss Verschiebungen in der Alltagswirklichkeit schaffen.” Der lokale Kontext bietet freilich eine eigene Genealogie dieser Herangehensweise. Zur kanonischen Figur der tschechischen Kunst wurde in den letzten Jahren – ohne eigenes Verschulden – Jiří Kovanda, der schon in den 70er Jahren mit minimalen Verschiebungen in der Alltagswirklichkeit gearbeitet hatte. Seine Aktion Divadlo („Theater“) gab es mehr als 20 Jahre vor der paradigmatischen Arbeit Kino von Pawel Althammer, die 2000 auf der Manifesta 3 realisiert wurde. Althammers Aktion zeigte eine Intervention im Stadtraum: Eigens dafür engagierte Schauspieler spielten einige Tage lang gewöhnliche Menschen. Die künstlerische Manipulation war nur zu erkennen, wenn der Betrachter am folgenden Tag an denselben Platz zurückkehrte und bemerkte, dass sich das Geschehen wiederholte. Kovanda stellte sich bereits 1977 auf den Wenzelsplatz in Prag und führte alltägliche, einfache physische Tätigkeiten aus. Nur bei längerer Beobachtung konnte man bemerken, dass er ein vorgegebenes Drehbuch durchspielte. Ein Resümee der zeitgenössischen Ausstellungskonzepte und der Versuche, einen aktuellen Stand der tschechischen Kunst abzugrenzen, könnte lauten: Die jungen Künstler brauchen inzwischen überhaupt keine Kunst mehr zu machen, es reicht schon aus, wenn sie auf die Aktionen von Kovanda verweisen. Wahrscheinlich würden sie in ihren Projekten sowieso dasselbe Prinzip wiederholen.


Die fehlende Alternative

Der Grund für die Einförmigkeit der zeitgenössischen jungen Kunst in Tschechien liegt darin, dass das “diskrete Prinzip” weitgehend konkurrenzlos ist. Die Kritik an dieser Tendenz, die es schon lange gibt, hat es bisher nicht nur nicht geschafft, Alternativen mit Perspektive anzubieten, sie war nicht einmal in der Lage, eine solche zu identifizieren. Sie macht vor allem den Fehler, diese Tendenz mit minimalistischen Trends in der Ausstellungsinstallation gleichzusetzen, wie sie zum Beispiel die Galerie Display vertritt. So werden zwei Aspekte des zeitgenössischen Kunstbetriebes verwechselt, die jeweils diametral gegensätzlichen Ursprungs sind. Das “diskrete Prinzip” repräsentiert einen formalistischen Ansatz, der die gewollte Unauffälligkeit von Kunstobjekten betont. Die nüchterne Form zeitgenössischer Installationen arbeitet dagegen mit Projekten konzeptionellen und dokumentarischen Charakters, deren Aussage von der Form der Präsentation nahezu unabhängig ist. Deshalb müssen ihre materiellen Gegebenheiten möglichst in den Hintergrund treten. Wie ich in diesem Artikel zu zeigen bemüht war, sehe ich die Problematik des “diskreten Prinzips” nicht in seiner Geringschätzung der Visualität, sondern vielmehr darin, dass es die abgegriffene Strategie der winzigen Interventionen in die Alltäglichkeit stützt.
Vorschläge zur Überwindung der Hegemonie des “diskreten Prinzips” basieren zumeist auf einer mechanischen Umkehrung ihrer angeblichen oder tatsächlichen Wesensmerkmale. Sie münden in den Versuch, die visuellen Aspekte von Kunstpräsentation wiederzubeleben sowie in den Ehrgeiz, ein Massenpublikum zu erreichen. Weil die konservativen Gegner des “diskreten Prinzips” in ihm nichts anderes sehen als eine unfruchtbare Ablehnung der Visualität, haben ihre Versuche, es zu bekämpfen den Charakter einer Negation der Negation. Dies wird an ihrer Argumentation deutlich: Die neuerlich eingeführte “Spektakularität” ist eine spiegelbildliche Umkehrung der “Unspektakularität”, während das altmodisch “Bildnerische” offenkundig die Sehnsucht nach früheren Zeiten zum Ausdruck bringt, als die tschechische Kunst noch nicht mit der internationalen Kunstwelt sowie mit globaler Massenkultur und Massenmedien konfrontiert war.
Mit dem Konzept der Ausstellung Věcné stavy („Ewige Zustände“) (9) habe ich den Versuch unternommen, mich von den Schatten der begrifflichen Abstraktionen wie etwa “Alltäglichkeit” oder “unmittelbarer Kontext” zu befreien, um stattdessen besonderen Wert auf das Konkrete als einigendes Moment der unterschiedlichen Ansätze zeitgenössischer junger Künstler zu legen. Trotz des Versuchs, ein breiteres Spektrum künstlerischer Ausdrucksweisen zu präsentieren, dominierten insgesamt schließlich doch diejenigen Arbeiten, die auf der bewährten Methode der winzigen Intervention ins Alltägliche gründeten, die für das “diskrete Prinzip” typisch ist (10). Die Kritik an dieser Ausstellung als “provinziell” war also begründet. Die sprachlichen Wendungen, mit denen ich mein Konzept zu formulieren versucht habe, ergänzten letztendlich nur das Repertoire kanonischer Begriffe der zeitgenössischen tschechischen Kunst. Deren Situation ist noch immer dergestalt, dass sie dem Einfluss des “diskreten Prinzips” Tribut zu zollen hat.




1 Dabei war das radikalste ikonoklastische Projekt der tschechischen Szene überhaupt die Initiative Nevystavujte v roce 2001 („Stellt im Jahr 2001 nicht aus“) von Salák.
2 Morganová, Pavlína: Insiders – nenápadná generace druhé poloviny 90. let(„Insiders – die unauffällige Generation der zweiten Hälfte der 90er Jahre“), in: Katalog zur Ausstellung Insiders, Dům umění města Brna (Kunsthaus der Stadt Brünn), Futura, 2005, S. 4.
3 Ebenda, S.4.
4 Bei der Beschreibung von Theorie und Praxis der Moskauer “unspektakulären Kunst” gehe ich von meinem eigenen Artikel aus: Image je nanic – poslouchej Osmolovského! Moskovské nonspektakulární umění 2001–2003 („Das Bild ist für die Katz – hör auf Osmolowskij! Die Moskauer unspektakuläre Kunst 2001-2003“), in: Korpus, Nr. 3, 2004, S. 14-21.
5 Levin, Thomas Y.: Dismantling the Spectacle: The cinema of Guy Debord. ‚Ciné dua non‘: Guy Debord and Filmic Practice as Theory. http://www.medienkunstnetz.de/themes/art_and_cinematography/debord/.
6 “Nonspektakuljarnost“: doktrina ili sozercanije – Eine Diskussion, an der folgende Künstler teilnahmen: Lew Jewzowitsch, Oleg Kulik, Bogdan Mamonov, Anatolij Osmolowskij, Wladimir Saľnikow sowie Wiktor Miziano, der Chefredakteur der Kunstzeitschrift Chudožestvennyj žurnal, in: Chudožestvennyj žurnal – Moscow art magazine, Nr. 43/44, 2002, S. 75-79.
7 Havránek, Vít, Mančuška, Ján: Revoluce v asynchronním prostoru („Revolution im asynchronen Raum“), in: Korpus, Nr. 3, 2004, S. 22–23.
8 Serranová, Mariana: Pressemeldung zur Ausstellung Indikace im Rahmen der Festivals “4+4+4 dny v pohybu” („4+4+4 Tage in Bewegung“), Jungmannova 21/30, 2006.
9 Věcné stavy („Ewige Zustände“), Kurator Václav Magid, Karlín Studios, Prag, 2006
10 Damit gebe ich nicht den Kritikern der Ausstellung recht, die in ihr eine Manifestation irgendeiner nüchternen Tendenz sehen, die billige Materialien verwendet – ihre Argumente gingen von einer völligen Ähnlichkeit der Installation aus und übersahen dabei die Andersartigkeit der Bewegung, welche die Ausstellung präsentierte.




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