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Die Kunst hinter der Ausstellung Duplus
Zeitschrift Umělec
Jahrgang 2007, 2
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Die Kunst hinter der Ausstellung Duplus

Zeitschrift Umělec 2007/2

01.02.2007

Valeria Gonzales | alt und neu | en cs de es

In der Kunstszene funktionieren die Begriffe „neue Technologien“ und „neue Medien“ als Synonyme. Sie sind absolut austauschbar. Das bringt jedoch eine bedeutende Reduzierung mit sich, da es impliziert, dass jegliche Techno-Logos und jegliches potenzielle Technologiewissen auf ihre bloße instrumentale Anwendung als Mittel zum Zweck reduziert werden.
In der Welt der Kunstausstellung wird davon ausgegangen, dass sich Arbeiten aus dem Bereich der „neuen Technologien“ oder der „neuen Medien“ mit speziellen Medien wie Fotografie, Video, Multimedia-Installationen, Netzkunst und dergleichen auseinandersetzen. Mit anderen Worten werden neue Technologien im Grunde als neue Arten der Produktion der immer gleichen Sache gesehen: von Kunstwerken.
Man braucht gar nicht erst zu erwähnen, dass jedes Medium, vom Internet bis zum Ölgemälde, spezifische Probleme aufwirft (technische, formale und semantische) und dass der Künstler sein Medium wählt in dem Wissen, dass es sich dabei nicht um ein neutrales Werkzeug handelt. Aber das Überraschende ist nicht die schiere Masse von Veränderungen, Neuheiten, oder dem Auftauchen der neuen Medien, die das Kunstsystem beeinflussen; die eigentliche Überraschung ist – von den ständigen Neuerungen mal abgesehen – die absolut stabile Funktion dessen, was wir „ein Kunstwerk“ nennen.
An dieser Stelle wird die Unterscheidung zwischen Moderne und Postmoderne ausgesprochen verschwommen. Zum einen gibt es kein einziges zeitgenössisches Kunstwerk, das in der Lage wäre, dem „Realen“, wie es im frühen 20.Jh. von Duchamp festgelegt worden ist, entgegenzutreten oder ihm gar zu entkommen. Ein signiertes Pissoir, das mitten in einer Kunstgalerie steht, ist nicht das gleiche wie das, das sich in den Toilettenräumen der Galerie befindet. Ich kann zwar mit Empörung reagieren („Was für ein Pseudo-Künstler! Das ist doch keine Kunst!“); doch nichtsdestoweniger akzeptiere ich die fundamentale Idee, die einem Kunstwerk zu Grunde liegt. Hinter dem Objekt verbirgt sich jemand (ein nicht anwesendes Subjekt), der mir etwas mitteilen will.1 Was wir als Kunstwerk akzeptieren, ist ein Objekt, das erstens die potenziell universelle Fähigkeit zu kommunizieren besitzt und das zweitens an das Subjekt des freiwilligen Autors gebunden ist. Ein Kunstwerk ist demnach ein Objekt, das zwischen zwei nicht existierenden Subjekten vermittelt. Universalität (all die potenziellen Zuschauer) und Individualismus (das Subjekt des Autors) sind hier ein und dasselbe: Orte, an denen niemand existiert.
Doch wir suchen uns besser einen anderen Ansatzpunkt und wenden uns von der Frage nach den neuen Technologien als neue Methode der Kunstproduktion ab. Fragen wir uns stattdessen lieber was die Bedingungen für Kreativität im allgemeinen Kontext eines technologisierten Lebens sind. Alles in allem ist nichts Überraschendes oder Problematisches an der Tatsache, dass neue Technologien als neue Medien für die Kunstproduktion hervortreten. Schließlich betreffen diese Technologien die Produktion von allen möglichen Gütern und Handelswaren und beeinflussen einen großen Teil der Produktionsarbeit auf der ganzen Welt. Heutzutage ist die fortwährende Existenz der Malerei in der Kunst eigentlich mysteriöser und problematischer.
Was meinen wir mit Kreativität? Deleuzes Antwort auf diese Frage ist sehr einfach. Kreation ist Produktion, das Entstehen eines Unterschieds; das Entstehen von etwas, das vorher nicht da war; etwas, das nicht einfach von dem, was vorher war, abgeleitet werden kann. Natürlich ist das einfach zu verstehen, aber die Form, in der es sich darstellt, ist alles andere als einfach. Kreation ist extrem selten und schwer zu erreichen. „Eine Idee zu haben, ist eine Art Party“, sagt Deleuze. Der größte Teil der Aktivitäten, die Menschen oder Dinge auf der Welt beschäftigen, sind nichts anderes als bloße Reproduktionen; Reproduktionen von spezifischen Bedingungen. Der Ärger besteht darin, dass in der Realität beide Dinge gleichzeitig geschehen. Kreation ist lediglich ein Bonus, der über die reproduktiven Mechanismen, die eine Aktion strukturieren, hinausgeht; ein Bonus, der die offensichtlichen Ziele einer Aktion übersteigt.
Deleuze erwähnt Kurosawas Sieben Samurai, doch wir können auch andere Beispiele finden. Beispiele aus menschlichen Anstrengungen und Kämpfen: Wenn eine Gruppe von Piqueteros2 eine Straße sperrt, um Nahrungsmittel zu verlangen, können dort unter Umständen Bindungen entstehen, die über die Aktion und ihre direkten Ziele hinausgehen. Das gleiche gilt für die Zapatistas: sie sind mehr als eine Armee – sie sind eine Gemeinschaft. Beispiele sind auch in der Kunstwelt zu finden. Man sehe sich nur Take AVL Ville an. Der Lebensraum, den die AVL Designer für sich selbst geschaffen haben, übersteigt den konzeptionellen Einfallsreichtum, der das Schaffen eines Kunstwerks in der Form eines Freistaates vorsieht und der das Kunstwerk dem Ausmaß eines Nationalstaates gleichsetzt; und zwar durch die spezifischen Formen des täglichen Lebens, die sie dort entwickeln. In all diesen Fällen gibt es einerseits eine systematische Organisation, die ohne die Reproduktion von Bedingungen und ohne das Zusammenfassen aller Eigentümlichkeiten in diesen Bedingungen nicht durchgeführt werden könnte. Diese berechtigt uns, solch allgemeine Kategorien wie „Streikposten“, „Armee“ oder „konzeptuelles Kunstwerk“ zu benutzen. Andererseits entsteht hier und da zuweilen ein Unterschied: ein singuläres Ereignis; eine Situation, deren Bedeutung nicht kommunizierbar ist; etwas, das sich der Vermischung in einem System widersetzt; eine Temporalität, die nicht verräumlicht werden kann3; ein Fragment, das nicht Teil eines abwesenden Ganzen ist, sondern ein Ganzes, das in dem Teilstück anwesend ist.
Die Deleuzische Definition von Kreation ist der von Duchamp hier sehr ähnlich.4 Was Deleuze zu Duchamps Definition hinzufügt, ist, dass wann immer dieser Bonus, den wir Kunst nennen, vorkommt, auch ein Akt des Widerstandes stattfindet.
Es stehen sich also Reproduktion und Kreation sowie Macht und Widerstand gegenüber. Macht und Widerstand entstammen den gleichen materiellen Bedingungen und werden durch die gleichen „Dinge“ mit Wert erfüllt. Deleuze konstatiert mit Bezug auf El Greco: „Mit Gott kann alles erreicht werden.“5 Gott ist gleichermaßen Zusammenwirken und potenzielle Befreiung. Unsere Frage über den Zustand der Kunst in der Ära des biopolitischen Kapitalismus könnte in der gleichen Art formuliert werden. Wenn Kapital das Leben zu dominieren beginnt und wenn Produktion vor allem die Produktion von Sprache, von Kommunikation, oder von lebenden Körpern ist (womit wir im Grunde „neue Technologien“ meinen), dann sprechen wir auch von neuen Bedingungen der Kontrolle und der Befreiung.6 Macht und Widerstand entstammen in der Tat den gleichen materiellen Bedingungen, aber der Unterschied liegt nicht in den „Medien“. Der Unterschied liegt in der absoluten Asymmetrie zwischen Macht und Widerstand. Es ist derselbe radikale Unterschied der Etwas von Nichts trennt. Was ist Macht? Es ist der Mangel an Potenz. Das Paradoxon des Kapitals erreicht seinen komplettesten Ausdruck im biopolitischen Zeitalter. Kapital besitzt keine produktiven Fähigkeiten. Nur lebende Arbeitskräfte können überhaupt etwas produzieren. Nur Lebewesen können dies. Kapital ist die Ansammlung toter Arbeitskraft; es organisiert die Lebenden, besitzt selbst aber keinerlei Wirkung. Bei näherer Betrachtung sehen wir, dass in der Macht niemand zu finden ist. Macht scheint alles zu beinhalten, aber es ist niemand da.
Was ist ein Künstler? Jemand, der fähig ist, die existierenden Bedingungen zu dekonstruieren, um sein eigenes Sein zu produzieren, um sich selbst zu produzieren. An dieser Stelle sind Handeln und Denken vereint. Hier geht es nicht um die Anwendung irgendwelcher Kenntnisse, sondern um die Fähigkeit, über seine eigenen Taten nachzudenken, über sich selbst nachzudenken. Wenn wir davon sprechen, dass die Postmoderne die Zeit annulliert, dann wollen wir damit nicht sagen, dass chronologische Zeit, Geschichte oder die geschichtlichen Fachrichtungen abgeschafft worden sind. Wir meinen damit, dass das Denken abgeschafft worden ist.7 Die Fähigkeit, sich durch eigenes Denken die Zeit neu anzueignen – die Zeit, die uns abgenommen worden ist – ist damit der Kern der ästhetischen Tätigkeit.8
Doch was könnte dieses Konzept sonst noch bedeuten? Ästhetische Tätigkeit geht über die Ungerechtigkeit zwischen dem Autorensubjekt, dem Kunstobjekt und dem öffentlichen Subjekt hinaus. Erstens produziert das Subjekt nicht einfach ein Objekt für die zuschauende Öffentlichkeit, sondern ist Teil davon und wird durch solches Tun zu sich selbst. Bei der spezifischen ästhetischen Praxis geht es daher eher um den Prozess und die Erfahrung als um die Bildform oder das resultierende Objekt. Man könnte dieses Schaffen sogar verstehen als Widerstand, ein Produkt zu produzieren. Es ist deshalb nicht teilnehmende Kunst, sondern Teilnahmekunst: eine Praxis, die nicht darauf abzielt, andere teilnehmen zu lassen, sondern stattdessen versucht, den Teilnehmern (nennen wir sie im Prinzip „Künstler“) die Teilnahme an einer spezifischen sozial-politischen Erfahrung zu ermöglichen. In einem Kunstwerk steckt keine Botschaft für das breite Publikum; stattdessen führt es zu einer Intensivierung von Identifikationsprozessen oder subjektiver Anpassung. Letztlich ist noch hinzuzufügen, dass künstlerische „Techniken“ und „Stile“ aus der Situation heraus entstehen und nicht aus Autorenprojekten. Sie werden nicht nach Maßgabe der Wertkriterien der zeitgenössischen Kunst etabliert. Sie unterscheiden sich von der Anwendung spezialisierten Wissens. Sie können sogar gewollt anachronistisch oder unoriginell sein. Ästhetische Tätigkeit ist also als ein wiederholter Prozess, der über das negative, spekulative Verhältnis mit der Macht hinausgeht.
Es steckt demnach etwas Täuschendes in dem Adjektiv „neu“ der Bezeichnung „neue Medien“. Es geht ja nicht darum, ein „neues“ Kunstwerk zu schaffen, das sich von den vorhergehenden unterscheidet. Es geht nicht um Fortschritt. Das ist das Paradoxe an der Avantgarde, für die Erfolg in Wirklichkeit mit Versagen gleichzusetzen ist: die logische Konsequenz des Veralterns von Stilen, die alles andere als verschwinden und immer noch die Dynamik der Kunst bestimmen. Es geht nicht darum, das Kunstsystem in Frage zu stellen, um darin einen Platz zu finden; sondern darum, dort einen Platz zu finden, wo Kreation möglich ist. Es geht nicht um das Negieren des Systems, sondern um die Bekräftigung von etwas.
Was für ein Unterschied könnte es dann geben zwischen ästhetischer Tätigkeit als der Wiederaneignung von Leben und den formalen Strategien der post-modernen „Aneignungskunst“? Unserer Meinung nach ist diese Unterscheidung der in der Philosophie über die Essenzen des Seins sehr ähnlich. In klassischer Tradition ist die Essenz einer Sache gleich dem Umriss ihrer Figur (daher auch die Relevanz der griechischen Bildhauerei). Eine andere philosophische Tradition, die in Spinoza ihren Höhepunkt erreicht, sieht die Grenzen einer Sache nicht als den Umriss ihrer Figur, sondern als die Grenzen ihres Handelns. Dinge sind nicht Essenzen oder Formen; sie sind Fähigkeiten, Summen von unbelasteten Fähigkeiten. Sie sind lebende Körper, nicht nur Ideen.
Deleuze lässt die Pflanzenwelt der Stoiker gegenüber der Welt der Bildhauerei wieder lebendig werden. Ein Samen kann eine Mauer zum Einstürzen bringen – also was macht es für einen Sinn, nach dem Umriss seiner Figur zu fragen? Wo endet ein Wald? Vielleicht am äußeren Rande des Waldes? „Die Tatsache, dass wir nicht einmal genau sagen können, wo genau der Wald aufhört, Wald zu sein, zeigt doch, dass er keinen Umriss hat. Er hat keine Umrissgrenze, sondern eine dynamische Grenze. Er hat keine andere Grenze als die Grenze seiner eigenen Kraft [puissance] oder seines Handelns. Der Wald wird nicht von seiner Form definiert, sondern von seiner Fähigkeit: der Fähigkeit, immer mehr Bäume wachsen zu lassen, bis er nicht länger kann. Die einzige Frage, die ich dem Wald stellen muss, ist: „Wie steht’s mit deinen Fähigkeiten? Mit anderen Worten: Wie weit wirst du gehen?”9
In der gleichen Art und Weise stellen wir die Frage an Kunstwerke: Hört auf, die Umrisse einer Figur in einem vordefinierten Raum (dem Kunstsystem) zu bewerten – egal, ob sie visuell oder konzeptionell sind; und fangt an, Fragen über die Grenzen des Handelns zu stellen; darüber, was dieses Handeln hervorbringt; und darüber, was es in Stücke reißt.







1. Gérard Wajcman, L´objet du siècle, París, editions Verdier, 1998.
2. Ein Neologismus, der auf dem Wort piquete [Streikposten] basiert: Dieses meint die informellen Organisationen von Arbeitslosen, die mit ihrem Protest auf die Straße gingen, nachdem Carlos Menem seine neo-liberale Politik zu intensivieren begann, welche die Arbeits- und Produktionssysteme Argentiniens zerstörte.
3. Deleuze, Gilles. Qu’est-ce que c'est l’acte de création? Konferenz an der FEMIS Stiftung, Paris, 1987.
4. Jameson, Fredric Postmodernism or, the Cultural Logic of Late Capitalism. Durham, Duke University Press, 1991. Der „Kunst-Koeffizient“ ist der Unterschied zwischen zwei Kopien. Siehe Craig Adcock, Marcel Duchamps Notes from the Large Glass: An N-Dimensional Analysis, Ann Arbor, Michigan, UMI Research Press, 1983, S. 48-55. Siehe auch Dalia Judovitz, Unpacking Duchamp, Berkeley, University of California Press, 1998.
5. Deleuze, Gilles. En medio de Spinoza, Buenos Aires: Cactus, 2003, S.20.
6. Hardt, Michael und Negri, Antonio, Empire, Harvard University Press, 2000.
7. Jameson, The Seeds of Time, Columbia Univerity Press, 1994.
8. Geprägt von Carlos Basualdo, wurde dieser Begriff von Colectivo Situaciones und Duplus entwickelt. Siehe das Vorwort zu der Ausstellung The Structure of Survival, betreut von Basualdo auf der Biennale von Venedig, 2003; ‘Agenciamiento estético y militante investigador’ [Ästhetische Tätigkeit & der forschende Vorkämpfer] (Duplus Archiv); und ‘Agenciamiento estético. El caso del TPS’ [Ästhetische Tätigkeit. Der Fall TPS] (auch Duplus Archiv).
9. Deleuze, En medio de Spinoza, S.102 ff.




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