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Die Sonderbare Neue Welt – bald in einer Zukunft in ihrer Nähe
Zeitschrift Umělec
Jahrgang 2007, 2
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Die Sonderbare Neue Welt – bald in einer Zukunft in ihrer Nähe

Zeitschrift Umělec 2007/2

01.02.2007

Tony Ozuna | grenzszene | en cs de es

„Die Vereinigten Staaten teilen sich mit Mexiko eine Verbindung von zweitausend Meilen – die Haut zweier Köpfe. Alles, was Amerika über sich selbst glauben möchte – dass es unschuldig ist, dass es farblos ist, geruchlos, zurückgezogen, selbstgenügsam – wird korrigiert, gewichtet, beschönigt durch Mexiko, durch die Mütterlichkeit Mexikos, den Neid Mexikos, den Kummer Mexikos.“ – Richard Rodriguez, Days of Obligation – An Argument with My Mexican Father
Tijuana ist sowohl eine Stadt am Rand als auch eine in der Mitte. Sie liegt am Rande Mexikos und Süd-Kalifornien, und sie ist in der Mitte – gefangen im Kreuzfeuer von Migranten, Polizei und Grenzschutz, von Schmugglern, die nach Norden gehen und „Ausbrechern“ aus dem System, die nach Süden gehen.
Doch zwischen all dieser Erregung entlang der Grenze ist Tijuana auch eine Stadt, die eine neue Identität ausprobiert, vor allem aufgrund des Aufstiegs der künstlerischen und musikalischen Gemeinschaft, die in den letzten Jahren internationale Anerkennung gewonnen hat. Angeführt von dem upbeat-Projekt Nortec Collective (elektronische Musik), das einen einzigartigen regionalen Soundtrack für die Grenzstadt geschaffen hat, unterstützen Künstler und Musiker die Bekämpfung von Tijuanas Image der Gewalt und begrüßen und akzeptieren stattdessen ihre einzigartige Geschichte als der arme Nachbar, der auf seine ökonomischen Verbindungen nach San Diego und zum Norden angewiesen ist. Tijuana ist eine Stadt am Randsaum von Mexiko und war den größten Teil seiner Geschichte über praktisch unabhängig. Es ist ihre Kombination von Dritter-Welt-Armut, Hässlichkeit und, verbunden damit, einer speziellen Schönheit der Stadt, die die Nortec Generation so schätzt – im Grunde umarmen sie ihre surrealistische Realität.
Die „Strange New World“-Ausstellung für Kunst und Design aus Tijuana im Santa Monica Museum of Art (2007) war die letzte Haltestelle und reduzierte Version eines größeren Projekts, das 2006 im Museum of Contemporary Art in San Diego organisiert und ausgestellt und ebenfalls 2006 im Cultural Institute of Mexico in Washington D.C. erstmals eröffnet worden war.
In der Santa-Monica-Version von „Sonderbarer Neuer Welt“ zeigt der erste Raum eine Videoprojektion von Straßen in Tijuana, Los Angeles und San Francisco mit darüber gelegten High-Tech-Computerbildern mexikanischer Schubkarrenverkäufer. „Informal Economy Vendors“ von Julio César Morales ist dadurch ungemein interessant, dass die Schubkarren der Verkäufer vor Ort in den Städten aus ihren, per Computer-Grafik durch die Luft schwebenden, Einzelteilen zusammengesetzt werden. Welch adäquate Metapher für die bunten und lauten mexikanischen Schubkarrenverkäufer, die Tacos, Tamales, Eis, Obst und Gemüse verkaufen und inzwischen ein Teil des Straßenbildes in ganz Kalifornien bilden.

Einen Raum weiter dringt Salvador Ricalde (1975) mit „Tecalas and tarolas“ (Keyboards und Schlagzeuge) und dem belebenden Norteno Sound auf Video-Clips (wenn auch nur über Kopfhörer, und auch dann nicht laut) bis zum Herzen der Kultur vor. Ricaldes zusammengefügte Clips von Banda-Musik und Bildern aus den Dancehalls, zusammen mit einem Orientierungsvideo zweier japanischer Manager, die Mexikaner darin beraten, wie sie zu produktiven Arbeitern in den Maquiladoras (Montagefabriken) nahe der Grenze werden können, hätten an die Wand projiziert werden sollen. Stattdessen bedeckt eine stumme, doch tödliche, bildhauerische Installation die Wand und die anliegende Decke. Es handelt sich um ein großes Amerika mit einer Vagina im Zentrum. Die Vagina ist gleichzeitig die Jungfrau Maria, aber dennoch kaum als Heiligenbild zu bezeichnen. Die Vagina ist umgeben oder umsponnen von Gliedmaßen, die sie wie eine Schlange mit allen Enden der Nation verbinden. Die waagerechten Glieder, die mit Gold gefüllt sind, enden als Schlangen mit mehren Köpfen, wohingegen die umlaufenden Glieder, die die waagerechten miteinander verbinden, mit grünen Bohnen gefüllt sind. Die Bohnen repräsentieren die mexikanischen Arbeiter als ein unersetzliches Glied der Wirtschaftskette Amerikas, die das Biest füttern und erhalten.
Dieses immense Stück von Einar & Jamex de la Torre (1963, 1960) mit dem Namen „Exporting Democracy“ zeigt zudem silberne Flugzeuge, oder eher: Figuren von Jesus auf dem Kreuze, die an Flugzeuge erinnern und anscheinend auf Selbstmord- oder Freiheitsmission sind – sie fliegen herunter und bombardieren Ziele im Nahen Osten und Afrika. Zumindest ist Tijuana vor dieser Rache von El Gringo sicher.
Nichtsdestotrotz ist Tijuana auch eine Zone des Kampfes mit den Staaten, und die Arbeiten von Marcos Ramírez, bekannt als ERRE, unterstreichen diese Spannung. ERREs Bestrebungen nach öffentlicher Kunst sind vor allem durch inSITE bekannt, wo er 1994 ein riesiges Trojanisches Pferd aufstellte und es dann in die lange Schlange des Verkehrs, der sich vor der Einreise in die USA gebildet hatte, einreihte. Das zweiköpfige Pferd schaute in beide Richtungen, was Verwirrung stiftete darüber, wer hier eigentlich wen überrennt, und dieses Pferd wurde schnell zu einem visuellen Symbol des steigenden Schwungs innerhalb der Künstlergemeinde Tijuanas.
Für „Sonderbare Neue Welt“ arbeitete ERRE (1961) mit dem in Los Angeles ansässigen Autoren und Sozialhistoriker Mike Davis zusammen („City of Quartz“, „Ecology of Fear“ und zuletzt „No One Is Illegal: Fighting Racism and State Violence on the U.S.-Mexico Border“), um ein großformatiges, professionelles Plakat, das auf dem Highway Interstate 5 zwischen San Diego und der Grenze aufgestellt wurde, und eine kleinere Version für Galerien zu entwerfen.
Das „Prejudice Project“ ziert oben der Text „Don’t Be A Man For Just A Minute. Be A Man Your Whole Life“ (von Davis geschrieben), der sich an die so genannten Minutemen richtet, die umstrittene Gruppe „patriotischer“, bewaffneter Freiwilliger, die begonnen haben, die amerikanische Grenze gegen illegale Einwanderer zu schützen. Er ist in der Schriftart und dem Stil geschrieben, den die Rekrutierungsposter der amerikanischen Armee verwenden und auf denen verkündet wird: „Be All You Can Be – In The Army“. Unter dem Text sieht man einen Panoramablick auf die Grenze von der US-Seite aus sowie den Nacken eines Mannes in Camouflage, der nach Tijuana schaut. Außer dem Text stellte Davis auch den Kopf (eher wie ein „Red-Neck“ mit grauem Haar) für das Plakat zur Verfügung.
Auch weniger politische Arbeiten dieser Ausstellung sind zu nennen. René Peraltas riesige Holzwürfel durchschneiden den Raum fast bis zur oberen Decke. Es sind mit Lasern geschnittene Holzplatten, die an die typischen schmiedeeisernen Tore und Fensterstangen in den mexikanischen Nachbarschaften erinnern sollen, wo sie sowohl zum Schutz als auch zur Dekoration dienen. Peraltas „contain(mex) 3 = contiene(mex) 3“ wurde in Zusammenarbeit mit dem Architektenbüro Generica gemacht.1 Dieser Struktur von Peralta (1968), die den Galerieraum halbiert, wohnt eine einfache Eleganz (und Leichtigkeit) inne; sie bietet sogar die Möglichkeit psychologischer Entspannung vom schwereren Inhalt der sozialpolitischen Werke, die eher auf der einen als der anderen Seite zu finden waren.
Mittendrin verwandelt Jaime Ruiz Otis (1976) ausrangierte Materialien aus den Maquiladoras, den industriellen Großfabriken für Import und Export, die nach dem Beitritt zur NAFTA auf der mexikanischen Seite aus dem Boden gesprossen sind. Er benutzt diese vorwiegend synthetischen Kunststoffe, um Skulpturen oder Installationen zu formen, und für diese Ausstellung nahm er Müll aus den Müllcontainern der Fabriken, um ein überdimensionales Maschinengewehr aus Plastikschnipseln zu bauen, das an der Wand hängt und mit, so wirkt es, hunderten von Plastik-Kinderpatronen und Spielzeugpistolen beladen ist. Er schuf auch eine Serie von Gravuren aus Druckplatten, Metall, Kunststoff und Polyurethanmatten, die ursprünglich als Schneidbretter in den Fabriken benutzt wurden. Diese gebrauchten Oberflächen, die wiederholt gepresst, markiert und zerschnitten wurden, erschaffen einen düsteren, industriellen Kunstgestus, sobald sie auf ihre Tintendrucke auf Papier transferiert werden.
Alida Cervantes (1972) ist eine der wenigen Künstler und Künstlerinnen der Ausstellung, die auf der anderen Seite der Grenze, in San Diego, geboren wurde und in den angrenzenden, südkalifornischen Vororten groß geworden ist, auch wenn sie momentan zum Teil in Tijuana lebt. Ihre jüngste „Housekeeping Series“ ist eine Gruppe von Porträts mexikanischer Frauen, die als illegale „Housekeeper“ – der all-in-one-Mehrzweckbegriff für Putzfrau, Dienstmädchen, Köchin etc. – in ihrem Familienkreis gearbeitet haben.
Die Porträts sind in realistischem Stil gehalten und personalisieren auf wirksame Weise eine immer noch zum großen Teil unsichtbare soziale (Arbeiter-)Klasse in den USA. Cervantes’ Porträts zeigen reale Personen, die in den Medien vor allem als Klischees oder gar nicht vorkommen, da sie nichts haben, was besonders kontrovers oder sexy ist. Doch sie besitzen eine einfache Würde, die Cervantes zeigt oder zumindest nicht beim Malen verloren gehen lässt, und so ist dies eine ehrliche Geste von Respekt für die andere Seite, el otro lado, den es im Großen und Ganzen in der amerikanischen Gesellschaft so nicht gibt.
Mit der Ausstellung „Sonderbare Neue Welt“ erhielt die andere Seite eine gute Chance, ihre neue Identität zu zeigen – ein Gesicht, das zum Teil furchtlos und provokativ, aber auch von sozialem Bewusstsein durchdrungen ist, wozu auch funktional (und praktisch) fortschrittliche Architektur und Design gehören. Durch dieses kollektive Bemühen ist Tijuana jetzt selbstbewusst genug, seine Message rüber zu bringen, ohne sich ständig um Schock und öffentliche Aufregung bemühen zu müssen, wie es in der Vergangenheit von einigen Künstlern an der Grenze getan worden ist.
Fast 50 Künstler und verschiedene Kunst-, Design- und Architekturkollektive aus Tijuana haben gewissermaßen ihre mexikanische Maske abgenommen und eine Gemeinschaft preisgegeben, die Lebensfreude und das ernsthafte Bemühen, ihre Situation durch Kunst zu ändern, miteinander teilt – denn in ihrer ganzen einzigartigen Geschichte haben die Versprechungen der Regierungen im Süden wie im Norden dieser Gemeinschaft wenig Gutes gebracht.


1 „contiene“ bedeutet „enthält“.







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