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Die beispiellose Invasion
Zeitschrift Umělec
Jahrgang 2010, 1
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Die beispiellose Invasion

Zeitschrift Umělec 2010/1

01.01.2010

Jack London | en cs de

(...)
China war schließlich erwacht. Wo der Westen gescheitert war, reüssierte Japan. Das Land hatte die westliche Kultur und die Errungenschaften des Westens in Begriffe umgewandelt, die dem Chinesen verständlich waren. Schon Japan hatte die Welt in Erstaunen versetzt, als es so plötzlich erwacht war. Zu dieser Zeit zählte das Land jedoch lediglich vierzig Millionen Einwohner. Auf beängstigende Weise verblüffend war Chinas Erwachen in Anbetracht seiner vierhundert Millionen und des wissenschaftlichen Vorsprungs der Welt. Es war der Koloss der Nationen. Sehr bald und keinesfalls zurückhaltend war seine Stimme in den Angelegenheiten und Räten der Völker zu vernehmen. Während China von Japan angetrieben wurde, schauten die stolzen abendländischen Völker ehrerbietig zu.
Den schnellen und bemerkenswerten Aufstieg erreichte China vielleicht mehr als durch alles andere wegen der vollkommenen Qualität seiner Arbeit. Schon immer war der Chinese ein makelloses Arbeitstier. Ob seiner schieren Leistungsfähigkeit konnte sich kein Arbeiter der Welt an ihm messen. Die Arbeit war sein Lebenselixier. Während andere Völker ferne Länder durchstreiften und bekriegten und nach spirituellen Abenteuern suchten, fand er seine Erfüllung in der Arbeit. Der Zugang zu mühevoller Arbeit war für ihn Inbegriff von Freiheit. Den Boden beackern und endlos arbeiten zu können – das war alles, was der Chinese vom Leben und den höheren Mächten verlangte. Und Chinas Erwachen verschaffte seiner riesigen Bevölkerung nicht nur freien und unbegrenzten Zugang zu mühevoller Arbeit, sondern auch Zugang zu komplizierten und äußerst genauen maschinellen Arbeitsmitteln.
(…)
Wider Erwarten zeigte sich China dem Kampfe nicht zugetan. Fremd war dem Land der napoleonische Traum und es genügte ihm, sich den Künsten des Friedens zu widmen. Nach einiger Zeit der Unruhe wurde weithin die Meinung gefasst, dass China zu fürchten sei: nicht etwa kriegerisch, sondern wirtschaftlich. Es wird noch zu lesen sein, dass man die eigentliche Gefahr nicht begriff. China fuhr fort, seine Zivilisierung der Maschinen zu vervollkommnen. Anstelle eines großen stehenden Heeres entwickelte es eine gewaltig größere Miliz von hervorragender Effizienz. Nur seine Marine war so klein, dass sie zum Gespött der Welt wurde. Dennoch unternahm China keinen Versuch, seine Flotte zu stärken. Kein einziger internationaler Handelshafen wurde von chinesischen Inspektionsschiffen angelaufen.
Die eigentliche Gefahr ging von der Fruchtbarkeit der chinesischen Lenden aus. Im Jahr 1970 erschallte der erste Alarmschrei. Seit einiger Zeit hatten alle an China angrenzenden Gebiete mürrisch einer chinesischen Zuwanderung zugesehen; jetzt aber bemerkte die Welt plötzlich, dass Chinas Bevölkerungszahl bei 500 Millionen Menschen liegen würde. Diese war seit seinem Erwachen um einhundert Millionen gestiegen.
(…)
In den kommenden fünf Jahren expandierte China rasch in alle Richtungen des Festlandes. Siam wurde dem Reich eingegliedert. Und obwohl England alles in seiner Macht Stehende tat, wurden Burma und die Malayische Halbinsel überrannt, während sich Russland entlang der Südgrenze Sibiriens massiv von den vorrückenden Horden Chinas bedrängt sah. Die Methode war einfach. Zunächst erfolgte die Einwanderung der Chinesen (eigentlich hatte sich diese schon langsam und heimtückisch während der Vorjahre vollzogen). Dann trafen die Waffen aufeinander und die Opposition wurde von einer riesigen Milizarmee weggefegt, gefolgt von ihren Familien und ihrem Hausrat. Schließlich ließen sie sich im eroberten Gebiet als Kolonisten nieder. Eine solch skurrile und effektive Methode der Welteroberung hatte es noch nie gegeben.
(…)
Die Vereinten Mächte appellierten an China und bedrohten das Land. Dies war alles, worauf sich die Konvention von Philadelphia belief. Doch China konnte nur über die Konvention und die Mächte lachen. Li Tang Fwung, die graue Eminenz hinter dem Drachenthron, ließ sich zu einer Antwort herab.
„Was kümmert China das Einverständnis der Nationen?“, sagte er. „Wir sind die älteste, ehrenhafteste und königlichste Rasse. Wir haben unser eigenes Schicksal zu vollenden. Es ist unerfreulich, dass unser Schicksal nicht mit dem Schicksal der übrigen Welt übereinstimmt, aber was ist es, das ihr wollt? Ihr habt aufgeblasene Reden über die königlichen Rassen und das Welterbe gehalten. Wir können darauf nur sagen, dass das abzuwarten bleibt. Niemand kann in China eindringen. Unsere Flotte tut dabei nichts zur Sache. Nur kein Geschrei! Wir wissen um die Bescheidenheit unserer Flotte. Wie man sieht, nutzen wir sie für polizeiliche Zwecke. Wir haben kein Interesse an der See. Unsere Stärke liegt in unserer Bevölkerung, die bald eine Milliarde erreichen wird. Dank der Vereinten Mächte sind wir mit der kompletten modernen Kriegsmaschinerie ausgestattet. Schickt eure Kriegsmarinen! Wir werden sie nicht bemerken. Sendet eure Strafexpeditionen, aber denkt zunächst daran zurück, was Frankreich geschah. Eine halbe Million Soldaten an unsere Küsten zu schicken, wäre eine Belastung der Ressourcen einer jeden Nation. Unsere tausend Millionen würden sie mit einem Bissen hinunterschlucken. Sendet eine Million. Sendet fünf. Wir werden sie ebenso leicht verschlingen. Puff! Ein Nichts, ein kärglicher Happen. Vereinigte Staaten, zerstört, wie ihr angedroht habt, die zehn Millionen Kulis, die wir euren Ufern aufgezwungen haben. Warum, fragt ihr? Die Summe entspricht kaum mehr als der Hälfte unserer Geburtenüberschussrate für ein Jahr.“
(…)
Wäre der Leser am 1. Mai 1976 jedoch in der kaiserlichen Stadt Peking anwesend gewesen, die inzwischen elf Millionen zählte, wäre er Zeuge eines sonderbaren Anblicks geworden. Er hätte mit plapperndem gelbem Pöbel bevölkerte Straßen gesehen, jeder Kopf in der Masse nach hinten geneigt, jedes schiefe Auge gen Himmel gerichtet. Und weit oben am Himmel hätte er einen winzigen schwarzen Punkt erblickt, den er, ob seiner geradlinigen Fortbewegung, für ein Luftschiff gehalten hätte. Und wie es seine Runden über der Stadt drehte, fielen Flugkörper von diesem Luftschiff – merkwürdige, harmlose Flugkörper, Röhren aus brüchigem Glas, die auf den Straßen und Dächern in tausend Stücke zerbrachen. Doch todbringend waren diese Glasröhren offensichtlich nicht.
(…)
Wäre der Leser sechs Wochen später erneut in Peking gewesen, hätte er vergebens nach den elf Millionen Einwohnern gesucht. Einige wenige von ihnen hätte er gefunden, ein paar hunderttausend vielleicht, deren Kadaver in den Häusern und menschenleeren Straßen verwesten und sich hoch auf den verlassenen Todeswagen stapelten. Die restlichen aber hätte er entlang der Straßen und Wege des Reiches suchen müssen. Und nicht alle hätte er aus dem pestgeplagten Peking fliehend angetroffen, denn vorbei an Hunderttausenden nicht begrabener Leichen auf der hinter ihnen liegenden Strecke, hätte er das Ende jener Flucht bezeichnen können. Und wie es Peking erging, geschah es allen Städten und Dörfern des Reiches. Die Pest schlug sie alle. Auch war es nicht eine Seuche oder zwei, es war ein Dutzend von Seuchen. Jegliche bösartige Form ansteckenden Todes suchte das Land heim.
(…)
Derart vollzog sich die beispiellose Invasion Chinas. Für diese Milliarden von Menschen gab es keine Hoffnung. Eingepfercht in ihrem riesigen, dahinwesenden Gebeinhaus ohne jegliche Ordnung und Zusammenhalt, blieb ihnen nichts als zu sterben. Sie konnten nicht entkommen. So, wie sie von ihren Landesgrenzen zurückgeschleudert wurden, wurden sie auch von der See zurückgeworfen. Fünfundsiebzigtausend Seefahrzeuge patrouillierten die Küsten. Am Tage trübten ihre rauchenden Schornsteine das Gestade, des Nachts durchpflügten ihre blinkenden Suchscheinwerfer die Dunkelheit und durcheggten sie nach der noch so kleinsten fliehenden Dschunke. Kläglich waren die Versuche der gewaltigen Dschunkenflotte. Es gab kein Vorbeikommen an den wachenden Seehunden. Die modernen Kriegsmaschinen hielten die unorganisierten Massen Chinas zurück, während die Seuchen die eigentliche Arbeit erledigten.
Was man einst Krieg nannte, wurde zum Gegenstand von Gelächter. Dem Militär blieb nichts als die Patrouille. China hatte über den Krieg gelacht und wurde schließlich von selbigem ereilt. Aber es war ein ultra-moderner Krieg, der Krieg des zwanzigsten Jahrhunderts, der Krieg der Wissenschaftler und der Labore, der Krieg Jacobus Laningdales. Das Hunderttonnengeschütz war Spielzeug, verglichen mit den mikroorganischen Geschossen, die man aus den Laboratorien schleuderte, den Boten des Todes, den zerstörerischen Engeln, die das Reich der eine Milliarden Seelen heimsuchten.
Während des Sommers und des Herbstes 1976 war China ein Inferno. Es gab kein Entkommen vor den mikroskopischen Geschossen, die auch die entferntesten Schlupfwinkel ausfindig machten. Die Millionen und Abermillionen von Toten blieben unbegraben. Die Keime vervielfachten sich selbst. Als es auf das Ende zuging, starben Millionen täglich den Hungertod. Zudem schwächte der Hunger die Opfer und zerstörte ihre natürlichen Abwehrkräfte gegen die Seuchen. Es regierten Kannibalismus, Mord und Wahnsinn. So ging China zugrunde.

(...)

Lieber Xue Jiye, wie heißt dieses Werk? Erzähle mir mehr, über seine Bedeutung. / Lieber Ivan, dieses Bild kannst du nennen, wie du willst und ihm jede beliebige Bedeutung zuschreiben. / Lieber Xue Jiye, darf ich dieses Gemälde „Der Osten fickt den Westen“ nennen? / Lieber Ivan, mit meinem Bild kannst du wirklich machen, was du willst. Jeder Mensch hat zu diesem Bild seine eigene siegreiche Idee.




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