Zeitschrift Umělec 2010/2 >> Jekaterinburg: auf den Spuren einer Reise Übersicht aller Ausgaben
Jekaterinburg: auf den Spuren einer Reise
Zeitschrift Umělec
Jahrgang 2010, 2
6,50 EUR
7 USD
Die Printausgabe schicken an:
Abo bestellen

Jekaterinburg: auf den Spuren einer Reise

Zeitschrift Umělec 2010/2

01.02.2010

Alena Boika | in transition | en cs de

Jekaterinburg ist eine Stadt, die zu Recht von sich sagen kann, dass sie die wichtigste ist, wenn es um In Transition geht. Eine Stadt, in der jeder Besucher genau den Punkt finden möchte, an dem man – schließlich handelt es sich um den Ural – mit einem Bein in Europa und mit dem anderen schon in Asien stehen kann. Eine Stadt, die zu Recht stolz sein kann auf so viel Zarenfamilie pro Quadratmeter. Eine Stadt, die in den 80ern – noch unter dem Namen Swerdlowsk – zur Hauptstadt des Rocks und des Underground wurde. Eine Stadt, in der man bis heute herausragende Denkmäler des Konstruktivismus findet, die wie durch ein Wunder nachlässig erhalten wurden. Eine Stadt, in der der Kraut- und Kartoffelmarkt mit seinen Menschen vor dem Hintergrund eben dieser strahlenden Höhen des Konstruktivismus überrascht. Es scheint, als ob alle Bewohner die „Trommel zum Rennen an Ort und Stelle“ besuchten. Eine Stadt, in der es unmöglich ist, nicht daran zu denken, wie enttäuscht Bazhov wäre, der in seinen wohlklingenden Erzählungen die Schätze beschreibt, die in eben jenen Uraler Höhlen und Bergen im Geheimen verborgen liegen – jetzt kann man hier alle diese Halbedelsteine kaufen. Wie billiges Glas glänzen sie neben Papierkalendern mit Dollar- und irgendwelchen Präsidentenabbildungen in jedem Kiosk und an der Straßenecke der Sakko- und Vanzettistraße, wo sich niemand mehr daran erinnert, wer diese beiden waren und warum die Straße zu ihren Ehren benannt wurde. Dafür wissen alle, dass man samstag auf den Markt gehen muss, um Kartoffeln, Kraut, Honig und Fisch zu kaufen und sich mit Reserven einzudecken. Denn diesen langen, dunklen, schrecklichen Winter kann man nur überstehen, indem man warme Speisen zu sich nimmt, den Konstruktivismus studiert und bewahrt, die Erzählungen Bazhovs liest und eine weitere Ausstellung für zeitgenössische Kunst organisiert – oder irgendeine Biennale.


Jekaterinburg begrüßt uns mit kaltem Wind, undurchsichtiger Finsternis und klassisch schlechten russischen Straßen. Im Hotel Iset, das nach einem der schönsten Flüsse des Urals benannt ist, werden die Gäste von einer denkwürdigen Tafel empfangen. Diese teilt dem Besucher mit, dass das Hotel einst Teil des Architekturensembles des Wohnkomplexes „Tschekisten-Städtchen“ war, einem Musterbeispiel aus der Epoche des Konstruktivismus der 20er Jahre (Architekten V. D. Sokolov, I. P. Antonov, A. M. Tumbasov). Das Gebäude, 1933 als Hauskommune für die Kommandeure des NKWD gebaut, ist 1961-62 zum Hotel Iset umfunktioniert worden. Noch nie im Leben musste ich an einem Ort wohnen, der speziell für Angehörige der Sicherheitsorgane geschaffen worden war. Die Unterkunft zeichnet sich durch Bescheidenheit und kleine Ausmaße aus, das Fenster blickt in einen traurigen Hof. Das Leben eines einsamen Tschekisten setzte offensichtlich eine asketische Lebensart voraus – in einer solchen Kammer konnte er nur schlafen, lesen und daran denken, was für den Kampf gegen die Feinde und für ein besseres Leben getan werden musste. Sein eigenes Leben sollte für ihn unter solchen Bedingungen keinen Wert darstellen – er war nur irgendeine unbedeutende Einheit in einer winzigen Stube. Aus Begeisterung finde ich keinen Schlaf und mache mich kurzerhand zu einem Nachtspaziergang auf. Der Konstruktivismus zeigt sich in dieser Stadt überall zurückhaltend und ist in der Dunkelheit klar erkennbar. Mein T-Shirt besorgt die gutherzigen Passanten auf sowjetische Art: „Junge Frau, Sie erkälten sich!“ Sie selbst tragen Mäntel, es schneit ein wenig. Eine Anzeige im Fenster der Bibliothek zwingt mich stehen zu bleiben, um sie genau durchzulesen. In einer Spalte steht dort in großen Buchstaben:

WIR SUCHEN:
EINEN ZUSCHNEIDER
EINEN ELEKTRIKER
EINEN HANDWERKSMEISTER FÜR KOPFBEDECKUNG
EINE PUTZKRAFT
EINE SCHNEIDERIN
EINEN BELEUCHTER
EINEN FEUERWEHRMANN
EINEN HAUSMEISTER
EINEN REQUISITEN-DEKORATEUR
EINEN MALER

In mir macht sich das seltsame Gefühl breit, dass diese Anzeige aus alten Zeiten stammt, in denen alle noch irgendetwas brauchten.

Am nächsten Morgen führt man uns durch die Reste des Konstruktivismus, die man unter den Reklameschildern nicht immer sofort erkennen kann. Zum Glück gibt es in Jekaterinburg weniger Geld als in Moskau, deshalb sind die historischen Bauten – der Stolz der russischen Architektur – nicht zu Tode saniert. Ich kann nicht genau sagen, welche Beziehung die Kirche zur erschossenen Zarenfamilie Romanov hat, aber ihre Wände sind komplett mit vergrößerten Schwarz-Weiß-Fotografien der Familie bedeckt. Ich muss sagen, dass ich noch nie im Leben so viel Zarenfamilie auf einer Fläche gesehen habe. Die Dokumente, die es gibt, und die es niemals gegeben hat – Tagebücher und Kunstbände in allen Sprachen, unendliche Abbildungen der gequälten Zarenkinder – dies alles ist Überfluss und Vielfalt. Am Eingang stehen zwei Körbe mit den Aufschriften „Röcke“ und „Tücher“ und ein nicht zu übersehender Kasten für „Spenden“ – ein feuerfester Stahlsafe, der eher zum Tschekisten-Städtchen passt, als zur Kirche. Die Mitglieder der Kirchengemeinde eilen mit düsteren, gierigen Gesichtern in die Kirche vor der Zukunftsstadt, die in der Vergangenheit verblieben ist.
Unsere Ausflugsleiterin Dasha (Darja Kostina) sagt: „Und jetzt gehen wir in die Ausstellung für zeitgenössische Kunst!“ „In welche Ausstellung?“, fragen wir. „In welche? – Zeitgenössische Kunst!“, ruft Dasha kategorisch. Die Stadt ist stolz: Auch zu ihr bringt man zeitgenössische Kunst. Die Mitarbeiter des Museums, in dem die Wanderausstellung untergebracht worden ist, scheinen empört: „Sie möchten einen Katalog?“ – fragen sie mich ungläubig. „Eigentlich kostet er 100 Rubel, doch wenn Ihnen DAS gefällt, schenken wir ihn Ihnen.“ In den bescheidenen und stark sanierungsbedürftigen Räumlichkeiten werden dem Betrachter ewig dieselben Künstler vorgestellt: Dmitry Gutov, Anatoly Osmolovsky, Alexey Kalimma, Blue Noses, AES+F und weitere Stützen der Sammlung P’er Broshes, eines in Russland aktiven französischen Künstlers. Wie das jetzt Mode ist, schließt das Projekt etwas über die Zukunft ein, während es auf der Vergangenheit basiert – mit der Gegenwart klappt es irgendwie bei keinem richtig. In der Ecke, vor einem Bild von Pavel Pepperstein, stehen Tisch und Stühle – doch wem fällt ein, dass ein solches, wie von Kinderhand gemaltes Bild ernsthafte Kunst sein kann? Noch dazu ist es zu groß. Trotz des Mangels einer sichtbaren Zuneigung von Seiten der Einwohner passen sich einige Bilder der Ausstellung sehr organisch ins Umfeld ein: am besten von allen wohl die von Valery Koshlyakov.
Während des Spaziergangs zeigt die Stadt viele überraschende Nuancen, die optisch für sich selbst sprechen. Ich freue mich über den Park, in dem die aufgestellten Sportgeräte mit ausführlichen Beschreibungen über ihre Benutzung versehen sind. Mein Lieblingsgerät ist die „Trommel zum Rennen an Ort und Stelle“. Hier im Park sind ältere Frauen, Mädchen in roten Regenmänteln, seltsam aussehende Männer und Schreckgespenste anzutreffen.
Doch die Zeit läuft. Sie bringt Veränderungen und Ereignisse in die Stadt, die sich mitunter auf komischste Weise mit dem verbinden, was sie in ihrem Innersten wirklich ist. Von einigen Teilen dieses Wesens wissen wir aus dem Artikel von Darja Kostina über die Vergessene Utopie.



Aus dem Russischen von Helena Maier.
Alle Fotos von der Autorin.




Kommentar

Der Artikel ist bisher nicht kommentiert worden

Neuen Kommentar einfügen

Empfohlene Artikel

Magda Tóthová Magda Tóthová
Mit Anleihen aus Märchen, Fabeln und Science-Fiction drehen sich die Arbeiten von Magda Tóthová um moderne Utopien, Gesellschaftsentwürfe und deren Scheitern. Persönliche und gesellschaftliche Fragen, Privates und Politisches werden behandelt. Die Personifizierung ist das zentrale Stilmittel für die in den Arbeiten stets mitschwingende Gesellschaftskritik und das Verhandeln von Begriffen, auf…
Meine Karriere in der Poesie oder:  Wie ich gelernt habe, mir keine Sorgen  zu machen und die Institution zu lieben Meine Karriere in der Poesie oder: Wie ich gelernt habe, mir keine Sorgen zu machen und die Institution zu lieben
Der Amerikanische Dichter wurde ins Weiße Haus eingeladet, um seine kontroverse, ausstehlerische Poesie vorzulesen. Geschniegelt und bereit, für sich selber zu handeln, gelangt er zu einer skandalösen Feststellung: dass sich keiner mehr wegen Poesie aufregt, und dass es viel besser ist, eigene Wände oder wenigstens kleinere Mauern zu bauen, statt gegen allgemeine Wänden zu stoßen.
Nick Land, Ein Experiment im Inhumanismus Nick Land, Ein Experiment im Inhumanismus
Nick Land war ein britischer Philosoph, den es nicht mehr gibt, ohne dass er gestorben ist. Sein beinahe neurotischer Eifer für das Herummäkeln an Narben der Realität, hat manch einen hoffnungsvollen Akademiker zu einer obskuren Weise des Schaffens verleitet, die den Leser mit Originalität belästigt. Texte, die er zurückgelassen hat, empören, langweilen und treiben noch immer zuverlässig die Wissenschaftler dazu, sie als „bloße“ Literatur einzustufen und damit zu kastrieren.
Acts, Misdemeanors and the Thoughts of the Persian King Medimon Acts, Misdemeanors and the Thoughts of the Persian King Medimon
There is nothing that has not already been done in culture, squeezed or pulled inside out, blown to dust. Classical culture today is made by scum. Those working in the fine arts who make paintings are called artists. Otherwise in the backwaters and marshlands the rest of the artists are lost in search of new and ever surprising methods. They must be earthbound, casual, political, managerial,…
04.02.2020 10:17
Wohin weiter?
offside - vielseitig
S.d.Ch, Einzelgängertum und Randkultur  (Die Generation der 1970 Geborenen)
S.d.Ch, Einzelgängertum und Randkultur (Die Generation der 1970 Geborenen)
Josef Jindrák
Wer ist S.d.Ch? Eine Person mit vielen Interessen, aktiv in diversen Gebieten: In der Literatur, auf der Bühne, in der Musik und mit seinen Comics und Kollagen auch in der bildenden Kunst. In erster Linie aber Dichter und Dramatiker. Sein Charakter und seine Entschlossenheit machen ihn zum Einzelgänger. Sein Werk überschneidet sich nicht mit aktuellen Trends. Immer stellt er seine persönliche…
Weiterlesen …
offside - hanfverse
Die THC-Revue – Verschmähte Vergangenheit
Die THC-Revue – Verschmähte Vergangenheit
Ivan Mečl
Wir sind der fünfte Erdteil! Pítr Dragota und Viki Shock, Genialitätsfragmente (Fragmenty geniality), Mai/Juni 1997 Viki kam eigentlich vorbei, um mir Zeichnungen und Collagen zu zeigen. Nur so zur Ergänzung ließ er mich die im Samizdat (Selbstverlag) entstandene THC-Revue von Ende der Neunzigerjahre durchblättern. Als die mich begeisterte, erschrak er und sagte, dieses Schaffen sei ein…
Weiterlesen …
prize
To hen kai pán (Jindřich Chalupecký Prize Laureate 1998 Jiří Černický)
To hen kai pán (Jindřich Chalupecký Prize Laureate 1998 Jiří Černický)
Weiterlesen …
mütter
Wer hat Angst vorm Muttersein?
Wer hat Angst vorm Muttersein?
Zuzana Štefková
Die Vermehrung von Definitionen des Begriffes „Mutter“ stellt zugleich einen Ort wachsender Unterdrückung wie auch der potenziellen Befreiung dar.1 Carol Stabile Man schrieb das Jahr 2003, im dichten Gesträuch des Waldes bei Kladno (Mittelböhmen) stand am Wegesrand eine Frau im fortgeschrittenen Stadium der Schwangerschaft. Passanten konnten ein Aufblitzen ihres sich wölbenden Bauchs erblicken,…
Weiterlesen …
Bücher und Medien, die Sie interessieren könnten Zum e-shop
Limited edition of 10. Size 100 x 70 cm. Black print on durable white foil.
Mehr Informationen ...
75 EUR
79 USD
Limited edition of 10. Size 100 x 70 cm. Black print on durable white foil.
Mehr Informationen ...
75 EUR
79 USD

Studio

Divus and its services

Studio Divus designs and develops your ideas for projects, presentations or entire PR packages using all sorts of visual means and media. We offer our clients complete solutions as well as all the individual steps along the way. In our work we bring together the most up-to-date and classic technologies, enabling us to produce a wide range of products. But we do more than just prints and digital projects, ad materials, posters, catalogues, books, the production of screen and space presentations in interiors or exteriors, digital work and image publication on the internet; we also produce digital films—including the editing, sound and 3-D effects—and we use this technology for web pages and for company presentations. We specialize in ...
 

Zitat des Tages Der Herausgeber haftet nicht für psychische und physische Zustände, die nach Lesen des Zitats auftreten können.

Die Begierde hält niemals ihre Versprechen.
KONTAKTE UND INFORMATIONEN FÜR DIE BESUCHER Kontakte Redaktion

DIVUS
NOVÁ PERLA
Kyjov 36-37, 407 47 Krásná Lípa
Čzech Republic


 

GALLERY
perla@divus.cz, +420 222 264 830, +420 606 606 425
open from Wednesday to Sunday between 10am to 6pm
and on appointment.

 

CAFÉ & BOOKSHOP
shop@divus.cz, +420 222 264 830, +420 606 606 425
open from Wednesday to Sunday between 10am to 10pm
and on appointment.

 

STUDO & PRINTING
studio@divus.cz, +420 222 264 830, +420 602 269 888
open from Monday to Friday between 10am to 6pm

 

DIVUS PUBLISHING
Ivan Mečl, ivan@divus.cz, +420 602 269 888

 

UMĚLEC MAGAZINE
Palo Fabuš, umelec@divus.cz

DIVUS LONDON
Arch 8, Resolution Way, Deptford
London SE8 4NT, United Kingdom

news@divus.org.uk, +44 (0) 7526 902 082

 

Open Wednesday to Saturday 12 – 6 pm.

 

DIVUS BERLIN
Potsdamer Str. 161, 10783 Berlin, Deutschland
berlin@divus.cz, +49 (0)151 2908 8150

 

Open Wednesday to Sunday between 1 pm and 7 pm

 

DIVUS WIEN
wien@divus.cz

DIVUS MEXICO CITY
mexico@divus.cz

DIVUS BARCELONA
barcelona@divus.cz
DIVUS MOSCOW & MINSK
alena@divus.cz

 

DIVUS NEWSPAPER IN DIE E-MAIL
Divus We Are Rising National Gallery For You! Go to Kyjov by Krásná Lípa no.37.